Die Verraeterin
Sonnenlicht gelangte.
Sie hatte sich noch nicht völlig von dem Zauber erholt, mit dem sie der Alpha belegt hatte – was auch immer es gewesen sein mochte. Noch immer waren ihre Wangen gerötet, und sie schien ein wenig durcheinander zu sein. Vermutlich befand er sich weiterhin irgendwo in der Nähe. Xander wollte ihm auf keinen Fall die Möglichkeit geben, erneut in Morgans Bewusstsein einzudringen.
»Also gut. Wir kommen morgen wieder.« Er machte eine Bewegung, um ihren Arm zu ergreifen. Doch sie warf ihm einen solch feindseligen, kalten Blick zu, dass er seine Hand zurückzog.
»Ich bin nicht krank«, sagte sie.
Er presste die Lippen aufeinander, um nicht lächeln zu müssen. »Offensichtlich nicht.«
»Du weißt bereits, dass ich auch nicht weglaufen werde.«
»Schon verstanden«, erwiderte er kurz angebunden.
»Warum willst du dann immer meinen Arm nehmen, sobald wir irgendwo hingehen.«
Weil ich dich gerne berühre.
»Gewohnheit.« Das Wort kam ihm über die Lippen, ohne dass er darüber nachdachte. Offensichtlich war es nicht die Antwort, die sie erwartet hatte, wenn man nach ihrer Miene urteilte.
»Dann bist du also ein Gentleman -Killer«, sagte sie mit leisem Tadel in der Stimme. »Hat man dir das auf der Killer-Akademie beigebracht? Im Kurs ›Wie man sein Opfer höflich behandelt‹?«
Xander schloss die Augen für einen Moment und sah sich mit der Erinnerung an einen anderen weichen Frauenarm konfrontiert, den er einmal so gerne berührt hatte. Wieder stiegen Seelenqualen in ihm auf. Morgans Nähe kratzte an diesen alten, hässlichen Wunden und ließ sie erneut bluten – und er wusste nicht, was er dagegen tun konnte.
»Mein Fehler. Es wird nicht wieder passieren.«
Seine Stimme war bar jeglicher Emotion. Aber etwas Dunkles in ihm, etwas Wütendes und Heftiges regte sich und verlangte nach einem Ventil. Er hatte das Bedürfnis zu kämpfen, jemanden blutig zu schlagen, und dieses Bedürfnis war so stark, dass sie es spürte. Blinzelnd wich sie einen Schritt zurück. Er starrte sie kalt an, drehte ihr dann den Rücken zu und verließ den Dom, um auf den grell beschienenen Petersplatz hinauszutreten.
Dort, in einem Kreis um den riesigen Obelisken in der Mitte, standen sechs große Ikati-Männer, kampfeslustig wie hungrige Wölfe, und starrten ihn an.
15
Adrenalin explodierte wie Dynamit in seinen Venen. Xander wirbelte herum, rannte mit vier langen Schritten in den Dom zurück, packte Morgan am Arm und riss sie an sich.
» Lauf! «, zischte er ihr ins Ohr. Er stieß sie heftig von sich.
Sie schrie überrascht auf und stolperte in ihren hohen Absätzen auf dem glatten Marmorboden. Doch da er direkt hinter ihr stand, hielt er sie fest, sodass sie nicht stürzte.
»Xander! Was ist los? Was …«
Er hatte nichts von dem gehört, was sie sagte. Er ignorierte die überraschten Rufe der Leute, die er beiseitestieß, und ließ sich auch nicht aufhalten, um einen Blick zurückzuwerfen und nachzusehen, ob man ihnen bereits folgte. Er wusste, dass er nur dann eine – einzige – Chance hatte, Morgan in Sicherheit zu bringen, wenn er jetzt schnell war.
Schneller als sie. Xander und Morgan schlitterten um eine enorme Marmorsäule, wobei Morgans Absätze auf dem Boden klapperten. Dort verlor sie den ersten Schuh. Der zweite blieb liegen, als er sie gnadenlos zu dem riesigen, goldenen Altar zerrte, wo im Schatten des kolossalen Baldachins – eines dreißig Meter hohen Bronzemonuments von Bernini – gerade ein Gottesdienst stattfand.
Xander spürte, dass die Ikati den Dom durch die Vordertüren einzeln nacheinander betraten. Dunkle Energieblitze durchbohrten seine Haut wie Nadeln.
Auch Morgan spürte sie, denn sie stieß einen leisen Schrei aus und erstarrte. Dann wollte sie einen Blick über ihre Schulter werfen.
»Nein!«, rief er und riss sie weiter. Sein Schrei hallte tausendfach in der sonnendurchfluteten Kuppel wie ein gebrochener Glockenklang wider. Der Bischof in seiner roten Robe, der die Messe hielt, ließ sich nicht davon unterbrechen – er sah so aus, als ob er bereits hundert und vermutlich taub wäre. Doch mehrere der Gottesdienstbesucher wandten sich auf ihren Stühlen um und reckten die Hälse, um zu sehen, was dort hinten passierte.
Morgan und Xander rannten an den Leuten vorbei in das gewaltige halbrunde Querschiff aus Weiß und Gold. Sie schlitterten um rote Samtvorhänge, die dort zugezogen waren, um die Öffentlichkeit davon abzuhalten, diesen privaten Bereich der Kirche
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