Die verratene Nacht
hin, der in jeder Runde einmal zustach. Seine Arme schrien bei der Anstrengung schon vor Schmerzen, in diesem Kampf gegen den Starken, sehr behänden Mann. Schließlich gaben die Knie des Arztes nach und er fiel zu Boden. Theo setzte ihm nach, riss den zerschnittenen Kittel und das Hemd beiseite und fand den Kristall an seiner Haut, genau unter dem Schlüsselbein.
Er hing nur noch an einem Faden, wie ein scheißwackeliger Zahn, und er riss ihn da raus.
Ballard schrie, als der Schlauch um seinen Hals sich löste und der Kristall von dort ausgerissen wurde, wo er sich in Haut, Muskeln und noch weiter eingegraben hatte. Lange Tentakeln kamen mit dem blassblauen Stein raus und Theo stolperte nach hinten weg, hielt ihn in der Hand und brach dann erschöpft auf dem Boden zusammen.
Seine Arme zitterten, schmerzten davon, dass er den Mistkerl so lange hatte festhalten müssen. Der Kristall fühlte sich warm an und er war nass vor Blut und Gewebeschleim, lange Fäden, die aussahen wie hauchdünne Fiberoptikfaser, hingen schlaff daran.
Ballard stieß noch einmal keuchend die Luft aus und seine Augen wurden stumpf. Und während Lou und Theo dann zuschauten, begann er in sich selbst zusammenzuschrumpeln, so wie eine Traube in der Sonne zu einer Rosine. Schon bald war nichts mehr übrig außer Haut und Knochen. Trocken, spröde, braun und alt.
Theo kämpfte sich wieder hoch auf die Beine, weil er auf einmal wieder die Frau vor Augen hatte, und wandte sich jetzt ihr zum ersten Mal richtig zu.
Er starrte auf diese Kreatur herab – nicht länger eine Frau – die an den Tisch gefesselt war. Ihre Augen glühten orange, ihr Mund war offen, voller verfaulter Zähne, und das Fleisch sackte ihr überall ab, als wäre ihr Körper angeschwollen und gewachsen, hätte sich gedehnt und ihre Haut zum Platzen gebracht.
„Gott“, murmelte er und streckte – zum ersten Mal – die Hand aus, um eine Ganga direkt zu berühren. Das ist nicht Mordor. Das hier ist Isengard, wo die Monster erschaffen werden.
Das Monster – nein, sie war eine Frau – zuckte zusammen und bog sich nach hinten durch und begann zu stöhnen und zu seufzen. Und während Theo da runterblickte, trafen sich ihre Blicke. Ein Zucken des Wiedererkennens durchfuhr ihn da, denn tief unten drinnen, in beiden Augen, jenseits des orangenen Glühens, sah er sie. Er sah die Frau, er sah Erkenntnis. Er sah Furcht und Verwirrung und Verzweiflung.
Er sah Leben.
Und auf einmal fühlten sich seine Knie ganz schwach an und sowohl Dunkelheit als auch Licht durchschwärmten ihn. Begreifen und Erkenntnis erwachten.
Jetzt verstehe ich.
Er schaute rüber zu Lou, der immer noch das blutige Skalpell in Händen hielt, und die Frau mit dem gleichen betroffenen Gesichtsausdruck anstarrte, von dem Theo wusste, das er auch ihm anzusehen war.
Ah, Selena. Theo schloss die Augen. Ich brauche dich.
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ACHTZEHN
Selena schloss Gloria gerade die Augen, nachdem die letzten Spuren von bläulich-grauer Wolke verschwunden waren, als sie von der Küche her Stimmen hörte.
Eine Stimme ganz besonders.
Ihr Herz machte einen Hüpfer und sie selbst zwang sich, nicht auch hochzuspringen, nicht herumzuwirbeln, für den Fall, dass sie sich irrte. Aber innerlich war ihr Bauch voller flatternder Flügel und jetzt hämmerte das Herz ihr wild, wie bei einem jungen Mädchen, wenn sie die Stimme ihres ersten Freundes hört.
Theo.
Sie beschäftigte sich irgendwie, tat, was für Gloria getan werden musste: sie mit einem der einfachen Leintücher zu bedecken, nachdem sie ihre Hände richtig hingelegt hatte, ein kurzes Gebet über ihrem Leichnam zu sprechen und dann aufzustehen, um die Vorhänge um sie herum zuzuziehen.
Und nur dann gestattete sie sich zu gehen, langsam, langsam, zurück in die Küche.
Da waren sie alle und nahmen den Raum nur mit der Präsenz ihrer kraftvollen Körper ein: Wyatt, Elliott, Lou und Theo. Drei Köpfe in unterschiedlich dunklen Tönen und ein silberfarbener. Vonnie auch, natürlich, die geschäftig herumeilte, als ob man ihr gerade das größte Geschenk aller Zeiten gemacht hätte. Ihre Bäckchen waren rosa und ihre Augen leuchteten.
Aber Selena sah nur Theo.
Er sah so gut aus. So gut. Jung – ganz besonders in der Gesellschaft der anderen Männer – aber wirklich gut. Das Wasser wollte ihr im Mund zusammenzulaufen, aber der war zu trocken vor lauter Nervosität. Aber der Glanz auf seinem nachtschwarzen Haar, wie immer ein wilder, wirrer Busch, und die Wölbung seines
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