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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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kann.
    »Ich weiß, ihr wollt nicht mit mir sprechen, aber es gibt etwas, das ich wirklich gerne wüsste.« In meiner Stimme liegt kein Drängen, nur Ehrlichkeit. Trotzdem gehen zwei der Mädchen und ein Junge sofort in Abwehrhaltung. Die anderen tauschen Blicke. Sie sind möglicherweise neugierig.
    »Ich habe ein paar Geschichten über euren Clan gehört, unter anderem die mit den Dornen.« Ich sehe sie an, einen nach dem anderen. »Stimmt es? Seid ihr als Kinder durch Dornbüsche gezogen worden?«
    »Geht dich gar nichts an«, schnauzt eins der Mädchen, doch der Junge neben mir schiebt seinen zerschlissenen Ärmel nach oben. Vier zarte weiße Linien zeichnen seinen Unterarm.
    »Es gehört dazu«, sagt er stolz. »Mich musste niemand ziehen, ich bin freiwillig gegangen.«
    »Und hast geheult«, höhnt das Mädchen mit dem versengten Haar.
    »So wie wir alle. Ich war sechs.«
    Und jetzt bist du wie alt?, denke ich. Vierzehn? Und dir fehlt ein Finger. Das sollte nicht sein.
    Wieder regt sich eine alte Sehnsucht in meinem Innern. Ich hatte mich so darauf gefreut, dass wir, die besten Absolventen der Akademie, die Welt in unsere Hände nehmen und für alle lebenswerter machen würden. Für die Prims, für uns. Aber das ist nun nicht mehr möglich. Keiner von uns wird an den Schalthebeln sitzen, wir müssen uns schon glücklich schätzen, wenn wir die nächsten Tage überleben.
     
    Ein wenig später holt man mich wieder ab. Andris steht in der Tür und winkt mich zu sich.
    »Sie war nicht sehr nützlich«, stellt eins der Mädchen fest, kaum dass ich aus der Tür bin.
    Ich rechne damit, jetzt wieder in unserem Kellergefängnis zu landen, und hoffe darauf, dass Aureljo oder Fleming schon zurück sind. Aber wir schlagen einen mir unbekannten Weg ein. Hin und wieder versetzt Andris mir einen Stoß zwischen die Schulterblätter, nicht allzu grob, sondern mehr, damit ich mich beeile.
    »Sie sagen, du hättest dich fast von einem Wildschwein fressen lassen«, brummt er. »Das wäre ein Spaß gewesen.«
    Kaum hat er das Schwein erwähnt, rieche ich es schon. Bratendüfte wabern mir entgegen, wir müssen in der Nähe der Küche sein. Da vorne steht eine Tür offen, ich will einen Blick hineinwerfen, doch Andris schubst mich ungeduldig weiter, den Gang entlang.
    »Mach schon«, knurrt er. »Du wirst erwartet.«
    Erwartet. Das hört sich nicht bedrohlich an. Trotzdem zieht sich etwas in meinem Innern zusammen. Es war ein anstrengender Tag und ich möchte nichts weiter als essen und schlafen. Ich hoffe, wer auch immer mich erwartet, macht es kurz.
    Eine weitere Treppe abwärts, dann sind wir am Ziel. Vor einer hohen, zweiflügligen Tür bleibt Andris stehen.
    »Rede nur, wenn du gefragt wirst«, befiehlt er und drückt die Klinke herunter.
    Dahinter liegt ein großer Raum und er ist leer bis auf vier Menschen, die nicht weit von der Tür entfernt stehen. Sandor. Fiore. Und zwei Männer, die ich nicht kenne.
    »Das ist eine von ihnen, die anderen bringe ich, wenn sie von der Arbeit zurück sind.« Damit schließt Andris die Tür von außen.
    Ein erster Eindruck kann nicht wiederholt und ebenso wenig zurückgenommen werden. Ich bin mir sicher, dass der Eindruck, den ich auf die beiden fremden Männer machen werde, wichtig ist, also lasse ich mir Zeit. Sage nichts, sehe sie nur an und strahle Ruhe aus, so gut es mir möglich ist.
    Der eine ist groß und breit; sein Kopf ist oben bereits kahl, hinten wachsen aber noch Haare, die er lang trägt. Sie sind ebenso braun wie der Bart, der ihm bis auf die Brust fällt. Eine lange Narbe zieht sich über seine linke Wange und ihm fehlt ein Stück vom linken Ohr. Auf das abgewetzte Leder seiner Jacke sind vertraute Abzeichen genäht: Sentinel-Ränge in Blau, Rot und sogar in Gold. Dieser hier ist also ein Kämpfer.
    Der andere nicht. Er ist um einiges älter, gut sechzig, schätze ich. Sein Haar ist voll und dort, wo es noch nicht weiß ist, blond. Dasselbe gilt für seinen Bart. Im Schnee muss er perfekt getarnt sein, denn auch seine Kleidung ist weiß, bis hin zu dem Fellmantel, der um seine Schultern liegt.
    Dieser Mann ist der einzige im Raum, der lächelt. Das erleichtert mich, darf mich aber nicht dazu verleiten, ihm zu vertrauen.
    Ebenso wenig werde ich als Erste das Wort ergreifen. Ich bin durch Schweigen nicht in Verlegenheit zu bringen, ich kann stundenlang nur dastehen und Blicke erwidern.
    Das geht dem Mann mit dem weißen Bart offenbar genauso. Er betrachtet mich ausgiebig, immer

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