Die Verratenen
Schweine regelrecht aus den Händen. Die Wachen erstatten Sandor Report; sie haben in einiger Entfernung einen kleinen Trupp entdeckt, der sich schnell in die Büsche geschlagen hat, und vermuten, es sind die überlebenden Scharten. Sentinel haben sie nicht gesichtet.
Die Sucher und die Gruppe, die Boden freilegt, werden erst in zwei Stunden zurückerwartet. Ich sehe mich die Zeit bis dahin bereits im Kerker verbringen, in Dantorians schweigsamer Gesellschaft, und bin nicht unglücklich darüber. Eine Atempause. Eine Gelegenheit, um nachzudenken.
Doch ich werde nicht zurück in den Keller gebracht, sondern in einen anderen der unzähligen Räume des Hauses, wo fünf Mädchen und drei Jungen sitzen und sich über Stoffteile beugen. Die Stimmung ist aufgeladen, das spüre ich schon beim Eintreten.
»Hier«, sagt der Jäger, der mich hergebracht hat. »Der Liebling wird euch bei der Arbeit helfen. Zeigt ihr, was sie machen soll.«
»Muss das sein?«, will ein Junge mit schmutzig blondem Haar wissen. »Lasst sie doch die Küche putzen.«
»Nein. Anweisung vom Than.«
Aha, also habe ich Sandor diesen Spezialeinsatz zu verdanken. Wahrscheinlich eine Revanche für meine Bemerkung über die Dornen.
»Da.« Eins der Mädchen ist aufgestanden und weist auf einen schiefen Hocker.
Ich setze mich und sie drückt mir eine Nadel in die Hand. Vor mir auf dem Tisch liegen Stofffetzen und eine schlampig aufgewickelte Garnrolle.
»Kannst du nähen?«
Ja. Aber bisher habe ich nur Wunden genäht während meiner freiwilligen Dienste im Medcenter. Das hier ist etwas anderes und im Zweifel ist es besser, sich dumm zu stellen.
»Nein, eigentlich nicht.«
Sie seufzt. »War ja klar. Also, das ist ein Faden, das eine Nadel. Du fädelst hier ein«, sie zeigt auf das Nadelöhr, »und dann … nähst du eben.«
»Gut.«
Das Mädchen geht an seinen Platz zurück und ich bemerke, dass es hinkt. Auch die anderen tragen Verbände; dem Jungen, der neben mir sitzt, scheint der kleine Finger an der rechten Hand zu fehlen. Ich verkneife mir die Frage, aber er bemerkt meinen Blick.
»Wolf«, erklärt er.
»Oh. Das tut mir leid.« Kranke werden hier also nicht geschont, sondern zu einfacheren Arbeiten abgestellt. Hätte ich mir denken können.
Seit meinem Eintreffen sind jegliche Gespräche verstummt. Ich kann die misstrauischen Blicke spüren, auch wenn ich konzentriert auf meine Nadel starre. Der Faden ist dick und schwer einzufädeln.
»Yann sagt, ihr seid Spione«, platzt schließlich eins der Mädchen heraus.
»Sei still!«, wird sie angeherrscht.
Dann ist wieder Ruhe. Ich kann das Blut in meinem Kopf pochen hören. Spione. Dann ist diese Theorie also noch immer nicht aus der Welt.
»Wir sind keine Spione«, sage ich lahm. »Yann irrt sich.«
»Wie meistens«, murmelt der Junge neben mir.
»Halt deinen Mund!« Eins der Mädchen ist aufgesprungen und hebt die Hand, als wollte es den Jungen schlagen. Ihr Haar sieht angesengt aus. An einer Seite viel kürzer als auf der anderen und rußgrau. Ich frage mich, welchem Feuer sie wohl zu nahe gekommen ist.
Endlich habe ich den Faden in der Nadel, nun betrachte ich ratlos die Stoffteile, die vor mir liegen. Sie sind unregelmäßig geschnitten und unterschiedlich gemustert, das meiste davon ist alt und verschlissen.
»Woher habt ihr das?«
Das Mädchen mit den angesengten Haaren schnellt hoch. »Seht ihr? Spione! Sie sammeln Informationen und dann töten sie uns.«
Ich schüttle nur den Kopf. Es war dumm von mir zu fragen, ich kann mir schließlich denken, dass die Sammler in manchen Häusern auf alte Kleidungsstücke, auf Vorhänge oder Bettüberzüge stoßen. Eigentlich wollte ich nur eine harmlose Plauderei in Gang setzen, aber offensichtlich wird nichts von dem, was ich sage, als harmlos gewertet.
Also spare ich mir auch die Frage, was wir eigentlich nähen sollen, schnappe mir zwei ähnlich große und annähernd gleichfarbige Stoffstücke und beginne, sie an einer Seite zusammenzusticheln.
Es ist eine friedvolle Tätigkeit und nach etwa fünf Minuten fühle ich mich beinahe entspannt, ähnlich wie beim Rohstoffesortieren in den Sphären. Abgesehen von einem gelegentlichen Flüstern ist es ruhig im Raum.
Ich wüsste gern, wie die anderen heißen. Sie sind fast noch Kinder, woher kommen ihre Verletzungen? Fallen die Wölfe nachts über die Siedlung her?
Nach einer halben Stunde schweigsamen Nähens liegt mir schließlich doch eine Frage auf der Zunge, die ich nicht unterdrücken
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