Die Verratenen
Rohstoffen zurückgekommen und niemand wurde von Feindclans behelligt. Ein guter Tag.«
Für einen kurzen, irrealen Moment erinnert mich diese Ansprache an Gorgias’ Ruhetagsansprachen. Gleich wird Vilem die Jäger mit den höchsten Punktegewinnen nennen. Die Vorstellung lässt mich grinsen, doch genau in diesem Augenblick wechselt der Clanfürst das Thema.
»Seit drei Tagen beherbergen wir Fremde. Die meisten von euch haben sie schon gesehen. Es sind Lieblinge, sie kommen aus einer Sphäre im Norden.«
Geflüster setzt ein. Aus dem Norden, aha, das haben viele noch nicht gewusst. Die Blicke der versammelten Menschen kleben an uns. Ich achte darauf, dass meine Miene die richtigen Signale sendet. Freundlich, vertrauenswürdig, dankbar.
»Sie haben sich bisher friedlich verhalten. Was hätten sie sonst auch tun sollen?«
Gelächter. Mir gegenüber beißt Tycho die Zähne zusammen, Fleming betrachtet seine verschränkten Finger.
Er ist nicht dumm, dieser Fürst. Auch wenn er sicher keine Akademie besucht und keine Lektionen in Menschenführung erhalten hat, macht er instinktiv alles richtig. Jetzt wartet er, bis die Heiterkeit sich legt und ihn alle wieder gespannt ansehen.
»Trotzdem sind es Lieblinge. Wir müssen entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.«
Darauf läuft es also hinaus. Meine Kehle wird eng. Habe ich wirklich geglaubt, dass wir hier einfach unterschlüpfen können – halb Gäste, halb Gefangene –, bis uns etwas Besseres einfällt?
»Nehmen wir sie als Köder für die Jagd!«, schreit einer.
»Nein«, brüllt ein anderer. »Hängen wir sie! So wie ihre Leute es mit Bernad, Norman und dem alten Hanno gemacht haben!«
»Ja!«
»Genau!«
»Das ist gerecht!«
Die Zustimmung kommt vor allem von der gegenüberliegenden Seite der Tafel, wo auch Sandor sitzt, doch er beteiligt sich nicht, seine Augen sind starr auf einen Punkt irgendwo oberhalb unserer Köpfe gerichtet.
»Hängen, hm?«, meint Vilem. »Ist eine Möglichkeit, sicher. Die Sentinel würden ganz schön dumm glotzen, wenn sie ein paar ihrer Schützlinge im Wind baumelnd vorfinden würden.«
»Ja!« Es wird lauter im Raum. Es ist klar, die Mehrheit will uns tot sehen, und sei es nur des Spektakels wegen, das eine Hinrichtung mit sich bringt.
Drei der Jäger sind aufgestanden und kommen langsam näher; einer von ihnen ist der, dessen hasserfüllter Blick mich den ganzen Tag über verfolgt hat. Ich unterdrücke das Bedürfnis, nach Aureljos Hand zu greifen, ich will nicht schwach wirken, obwohl ich mich noch nie so hilflos gefühlt habe. Überall lauert der Tod. Durch Exekutoren, Prims, Wölfe. Einen Verräter.
»Nun, sie zu hängen ist Verschwendung und Verschwendung ist gegen die Gesetze des Clans«, wirft Quirin ein. Er spricht leise, trotzdem scheint das Gesagte niemandem zu entgehen. Es wird wieder ruhiger in der Halle. Der Respekt, den der Clan Quirin entgegenbringt, ist fast mit den Händen zu greifen. Die Bewahrer scheinen hohes Ansehen zu genießen.
»Richtig.« Vilem nickt. »Sind sie erst einmal abgehärtet, können sie arbeiten wie jeder von uns. Und … sie haben vieles gelernt, in den Sphären. Ihr wisst, wie nützlich das sein kann, denkt an Lennis.«
Unwilliges Murmeln.
»Aber es sind Spione.«
»… werden uns in den Rücken fallen.«
»Noch mehr Mäuler zu stopfen …«
»Ich habe eine bessere Idee!« Yann ist aufgestanden, das ist ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht hat Tomma wirklich etwas bei ihm bewirkt, ihm etwas zugeflüstert, das uns hilft. Oft genügt es, nur einen der Gegner auf die eigene Seite zu ziehen, um eine feindliche Front aufzubrechen.
»Wir tauschen sie gegen die Geiseln aus! Zumindest fünf von ihnen. Dieses Mädchen hier«, er deutet auf Tomma, »behalte ich.«
Der Vorschlag löst erst verblüfftes Schweigen aus, dann Jubel.
»Ja, wir geben sie den Sphären zurück.«
»Tauschen! Gegen Marcin, Harro und Eda!«
»Und Rike und Vadim!«
»Das ist keine Verschwendung, oder, Quirin? Das ist nicht gegen das Gesetz!«
Gut die Hälfte der Prims ist aufgesprungen, sie bilden Grüppchen, reden durcheinander, zeigen immer wieder auf uns, einige beginnen, uns einzukreisen. Nun greife ich doch nach Aureljos Hand. Wenn sie uns an die Sphären ausliefern, bedeutet das ebenso unser Ende wie ein Strick um den Hals.
Aureljos Finger umfassen meine. Einer von uns beiden sollte aufstehen und etwas sagen, das die Stimmung zu unsern Gunsten wendet, doch obwohl sich meine Gedanken überschlagen, ist
Weitere Kostenlose Bücher