Die Verratenen
vier Jäger, die uns als Beschützer mitgeschickt wurden, haben die Scharten ohnehin schon entdeckt. Sie feuern einige Pfeile auf sie ab und die Eindringlinge ziehen sich hinter die nahe stehenden Ruinen zurück.
»Die kommen wieder«, meint Dinah.
Und nur, weil ich mich zu ihr umwende, sehe ich den Stein. Er fliegt in einem perfekten Bogen auf uns zu, nein, auf sie, und er ist schneller als jede Warnung, die ich ausstoßen könnte.
Ich reiße Dinah um, auf mich zu, sie stolpert und fällt, ohne etwas von dem Geschoss mitzubekommen, das über sie hinwegfliegt. Sie landet direkt auf mir, ihr Gewicht nimmt mir sekundenlang den Atem.
»Bist du verrückt, du Scheißliebling!«, brüllt sie. Ihre Hände schlagen auf mich ein und ich habe große Mühe, ihre Arme zu fassen zu bekommen.
»Sie haben auf dich geschossen«, keuche ich. »Mit einer Schleuder.«
Zunächst glaubt sie mir nicht, wehrt sich gegen meinen Griff, fletscht die Zähne und spuckt, doch dann hebt eine der anderen Hirtinnen den Stein auf, der eine tiefe Spur in die Erde gerissen hat. Er ist keilförmig und an einer Seite so spitz, dass er in Fleisch und Knochen stecken bleiben würde.
Dinahs Entschuldigung besteht aus einem bösen Blick und unverständlichem Gemurmel. Egal. Mir ist schwindelig und mein Herz pumpt wie verrückt. Ich setze mich auf einen kleinen Fels, der wie eine Klippe aus dem matschigen Boden ragt, und atme tief durch. Etwas ist anders. Die flirrenden dunklen Punkte vor meinen Augen zum Beispiel, aber das ist nicht alles. Es ist …
Unbewusst habe ich auf das Signal meines Salvators gewartet. Wäre er intakt, müsste er längst vibrieren. Eventuell sogar Alarm schlagen, in den letzten Tagen hat er ab und an noch Lebenszeichen von sich gegeben. Ich taste danach, spüre die breite Manschette deutlich am linken Handgelenk. Wenn er bei meiner derzeitigen Pulsfrequenz nicht reagiert, wird er es wohl nie wieder tun.
Durchatmen. Ich beuge mich vor, stecke den Kopf zwischen die Knie, bis das Schwindelgefühl nachlässt. Es ist merkwürdig, ich bin bedrückt und gleichzeitig erleichtert. Von nun an werde ich meine Körpersignale immer selbst deuten müssen. Keine Warnungen mehr – die Empfehlungen, die Essen, Schlaf und Flüssigkeitszufuhr betreffen, haben ohnehin schon vor Tagen aufgehört.
Keine Warnungen mehr, hallt mein eigener Gedanke in meinem Kopf nach.
Werde ich noch Nachrichten empfangen können?
Ich frage Aureljo, was er davon hält, nachdem wir Stunden später die Ziegenherde vollständig und wohlbehalten zurückgebracht haben. Er selbst war mit den Jägern unterwegs und ist besorgt, weil sie so viele Wolfsspuren entdeckt haben.
»Tycho meint, die Geräte seien empfindlich und sollten nicht verschmutzen«, sagt er. »Meinen hat Andris ja zerstört, aber ich glaube, dass auch die von Fleming und Tomma längst aufgehört haben, Signale von sich zu geben.«
»Gestern, kurz bevor ich eingeschlafen bin, hat da nicht irgendjemand über die Salvatoren gesprochen? Worum ging es da?«
Einen Moment lang muss Aureljo nachdenken. »Fleming wollte unsere Werte abfragen, insbesondere die von Dantorian. Sein Salvator hat noch einigermaßen brauchbare Daten geliefert und die gute Nachricht ist, dass wir beruhigt sein können, was sein Bein betrifft. Keine Infektion, kein Fieber.«
Dann wird er bald wieder laufen können. Trotzdem bin ich eher enttäuscht als erleichtert. Eine Botschaft aus den Sphären wäre mir lieber gewesen. Nun ist vermutlich der letzte Faden gerissen, der mich mit meinem früheren Leben verbunden hat.
Vielleicht ist es aber auch gut so.
»Ria, schau nicht so traurig.« Aureljos Arme, die sich um mich legen, sein vertrauter Geruch, sein ruhiger, kräftiger Herzschlag.
»Ich bin nicht traurig«, murmele ich gegen seine Brust. »Das ist ja das Komische. Nur ratlos und wütend. Ich hasse es, nicht zu wissen, warum wir in dieser Lage sind.«
»Erinnere dich«, murmelt Aureljo, den Mund in meinem Haar vergraben. »Du selbst hast zu Beginn von einer Intrige gesprochen. Jemand, der so etwas einfädelt, muss dafür sorgen, dass wir im Dunkeln tappen und keine Chance haben, die Hintergründe aufzudecken.«
Ich habe lange nicht mehr an Tudor gedacht, aber plötzlich sehe ich ihn ganz deutlich vor mir. Das nach hinten gestrichene dunkle Haar, die spöttischen Mundwinkel, der durchdringende Blick. Tudor, die Nummer 2, jetzt vermutlich die Nummer 1. Ob er nachts gut schlafen kann?
»Außerdem«, fügt Aureljo hinzu,
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