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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Mensa betreten. Er blickt sich um, bevor er grüßend die Hand in Tudors Richtung hebt. Noch hat er mich nicht entdeckt und das darf er auch nicht, solange ich so nah bei Tycho stehe. Uns verbindet nichts, abgesehen von dieser angeblichen Verschwörung. Wenn wir plötzlich die Köpfe zusammenstecken, ist das verdächtig, Morus würde sofort seine Schlüsse ziehen.
    Doch im Augenblick ist sein Gesicht von mir abgewandt, ich sehe nur den bleichen Nacken und das glänzend dunkle Haar, das knapp unterhalb der Ohren endet.
    Ohne weiter auf Tycho zu achten, dränge ich mich zwischen den voll besetzten Tischen hindurch bis zu Aureljo. Er ist leicht zu finden – wie so häufig umgibt ihn eine Schar von Zuhörern und Ratsuchenden, die mich nicht durchlassen will.
    Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass Morus mich nach wie vor nicht beachtet, Tycho dafür aber umso mehr Aufmerksamkeit schenkt. Dann Tudor zu sich winkt und sich mit ihm … Unterhält? Berät? Aus dieser Entfernung erkenne ich ihre Gesichtszüge nicht gut genug, um sie lesen zu können.
    Tycho scheint mein grußloses Verschwinden nicht zu irritieren. Er zieht seinen Salvator über das Lesegerät und stellt sich bei der Essensausgabe an.
    Ich will hier raus. Mit Aureljo, der gerade einem Studenten der unteren Jahrgänge Tipps gibt, wie er ausreichend Punkte sammeln kann, um freie Mentorenwahl zu haben. Ein Thema, das ständig neue Zuhörer anzieht, kein Wunder, wenn die Nummer 1 darüber referiert. So kann ich nicht mit ihm sprechen, ihm nicht einmal unbemerkt Zeichen geben.
    Ich lehne mich an ihn und klopfe leicht mit meinen Fingern gegen seinen Rücken, höre erst auf, als er aufblickt.
    »Mir ist es hier zu voll«, sage ich wahrheitsgemäß. »Gehen wir spazieren?«
    »Sofort.« Er nimmt meine Hand in seine und hält sie fest, streichelt mit dem Daumen meine Handinnenfläche, während er dem Studenten rät, sich für möglichst viele freiwillige Dienste einzutragen.
    Über die schnatternde Menschenmenge in der Mensa hinweg trifft mein Blick auf den von Morus. Seine Miene ist absolut starr, nur sein Mund bewegt sich. Formt Worte, die aber nicht für mich bestimmt sind, sondern für Tudor, der lauscht und nickt.
    Was ich seit Tagen nicht wahrhaben möchte, scheint mir auf einmal offensichtlich: dass es eine Intrige ist, nur deshalb gesponnen, damit Tudor Aureljos Platz einnehmen kann. Ein echtes Opfer, fünf falsche, die mitsterben müssen, damit das Märchen von der Verschwörung glaubhaft bleibt.
    Morus’ Betroffenheit während des Gesprächs mit dem Unbekannten, seine Ungläubigkeit und sein Unwille, unser Schicksal zu akzeptieren, alles nur gespielt. Überzeugend, das muss man ihm lassen. Ich frage mich, ob er schon jemanden im Auge hat, der meine Position übernehmen wird.
    Ich zerre an Aureljos Hand, ziehe ihn förmlich auf die Beine. »Mir geht es nicht so gut«, murmele ich. »Bringst du mich zu meinem Quartier?«
    Hilferufe fallen bei ihm auf fruchtbaren Boden. »Natürlich.« Aureljo springt auf, führt mich durch die Menschenmenge hinaus, energisch und behutsam zugleich. Ich fühle Morus’ Blick im Rücken, drehe mich aber nicht um.
    Ich brauche einen Ort, an dem es laut ist, auch jetzt abends noch. Eigentlich wäre die Mensa ideal, nur dass dort so viele Menschen sind, die uns belauschen könnten – Technik wäre da gar nicht vonnöten.
    Aber vielleicht müssen wir gar nicht sprechen. Tycho musste es auch nicht. Ich ziehe Aureljo durch Kuppel 4 auf die Familienquartiere zu.
    Wer hier aufwächst, hat keine Chance auf einen hohen Posten. Von den eigenen Eltern aufgezogen zu werden mag schön sein, aber es bereitet einen nicht auf das Leben als Führungskraft vor. Hier wohnen die Bäcker, Wäscher und Kuppelreiniger. Sie und ihre Kinder. Das Höchste, was sie erreichen können, ist ein Posten bei den Sentineln, und auch dort nicht in einer leitenden Funktion. Leibliche Eltern sind keine guten Erzieher, heißt es.
    Es gibt hier eine Hermetoplastwand, auf der die Kinder malen dürfen. Daneben gehe ich in die Knie, finde eine freie Stelle zwischen zwei Zeichnungen von einem grünen Sentinel und einem schwarzen Vogel. Es ist einer von den Krähen, die manchmal auf den Kuppeln sitzen und gegen die Scheiben picken.
    Ich hauche die freie Stelle auf der transparenten Wand an, bis sie beschlägt.
    Intrige schreibe ich mit dem Finger. Erst will ich ein Fragezeichen dahintersetzen, doch ich entscheide mich dagegen.
    Mit dem Ärmel wische ich das Wort

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