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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Wochenversammlung ist.
    Der Nachmittag ist schon weit fortgeschritten, als ich beginne, mich anzuziehen. Obwohl ich den ganzen Tag lang nichts getan habe, fühle ich mich erschöpfter als je zuvor. Jede Bewegung ist anstrengend, am liebsten würde ich im Bett bleiben und mir die Decke über den Kopf ziehen. Für die nächsten zwei Monate. Der Gedanke, mich krankzumelden, streift mich kurz, doch der verdammte Salvator würde mich verraten, keine Frage. Außerdem graut mir vor dem Besuch im Medcenter, den jede Krankmeldung unweigerlich nach sich zieht.
    Also streife ich meine Ruhetagskleidung über – Hose und Shirt in einem hellen Rot, wie Lava, um den Hals ein aschefarbenes Tuch – und mache mich auf den Weg.
    Ich bin spät dran, die meisten Studenten sind schon in der Festhalle versammelt, die für mich noch immer Lus Aufbahrungshalle ist. Gleich beim Eintreten entdecke ich Aureljos hochgewachsene Gestalt, er steht ganz vorne und sucht die Reihen ab. Nach mir, vermutlich. Ich winke, sein Blick findet mich und ich sehe ihn erleichtert lächeln.
    »Ich war zwei Mal bei deinem Quartier, aber die Sentinel sagten, du hättest Anweisung gegeben, niemanden einzulassen. Und deine Sprechanlage war abgeschaltet.« Es ist kein Hauch von Vorwurf in seiner Stimme, nur Sorge.
    »Ich musste nachdenken.«
    »Ja. Das geht am besten alleine. Schön, dass du jetzt hier bist.« Aureljo deutet auf den Stuhl, den er mir freigehalten hat. Es ist eine fragende Geste, die mir offenlässt, ob ich sein Angebot annehmen will. Ich setze mich ohne ein weiteres Wort, denn Gorgias’ Sentinel betreten bereits das Podium. Zuerst sie, dann der Rektor selbst, so ist es immer.
    Mit unbewegten Gesichtern mustern sie die Reihen, woraufhin nach und nach die Gespräche verstummen. Als würde ihr Blick uns die Stimme nehmen. Binnen Kurzem ist es ruhig, nur noch ein Husten oder ein Räuspern durchbricht da und dort das Schweigen. Von diesem Zeitpunkt an dauert es üblicherweise circa fünf Sekunden, bis Gorgias erscheint, in seiner dunkelroten Robe und dem flachen weißen Barett, das seinen Kopf wirken lässt wie einen der Pilze, die wir in den Kellern züchten.
    Ich zähle mit. Drei, vier, fünf. Da ist er. Er schreitet feierlich bis zur Mitte des Podiums, hinter ihm folgen die Mentoren, einer nach dem anderen. Nehmen ihre Plätze ein.
    Um Gorgias’ Lippen spielt so etwas wie ein Lächeln. Verschwindet. Kommt wieder. »Ich begrüße euch aufs Herzlichste am Ende dieses Ruhetags!«, ruft er. Es sind die gleichen Worte, die er jedes Mal gebraucht, und wir antworten mit Applaus, wie immer.
    Gorgias beginnt mit den Statistiken der vergangenen Woche. Die Studenten mit den höchsten Punktegewinnen, mit den meisten freiwilligen Arbeitsstunden, mit den meisten lobenden Erwähnungen.
    Die meisten Punkte hat Tycho dazugewonnen, er springt von seinem Sitz auf und verbeugt sich nach allen Seiten, als er aufgerufen wird.
    Danach kommen die Absteiger. Laut verliest Gorgias die Namen derer, die ihre Arbeit schlampig oder gar nicht erledigt haben, die ihre gesamte Freizeit für sich statt für die Gemeinschaft genutzt haben. Während jede der lobenden Erwähnungen von uns mit lautem Klatschen quittiert wurde, herrscht nun absolute Stille. Anspannung liegt in der Luft – manchmal folgt einem Tadel eine Verpflichtung zu Zwangsdiensten, manchmal sogar die Versetzung an eine weniger angesehene Akademie. Doch nicht heute. Heute holt Gorgias ein Stück Papier aus dem Ärmel seiner Robe. Echtes Papier, es ist aufgerollt und sieht aus wie eine der Abschlussurkunden.
    »Ich habe die große Freude zu verkünden, dass einigen meiner Studenten eine besondere Ehre zuteilwird«, beginnt er. »Der Präsident hat den Wunsch geäußert, sie kennenzulernen. Sie haben eine Einladung in die Sphäre Zukunft erhalten, wo sie dem Präsidenten persönlich von ihren Fortschritten berichten werden.«
    Aufgeregtes Tuscheln wird laut, verhaltenes Lachen, Pssst-Zischen. Aureljo drückt meine Hand. Er träumt seit Jahren davon, den Präsidenten zu treffen.
    Zwei Plätze weiter rechts von mir sitzt Tudor, ebenfalls sichtlich nervös. Er hat die Hände vor dem Mund gefaltet. Sein linker Fuß wippt auf und ab.
    Nach einer effektvollen Pause entrollt Gorgias das Papier. »Der Erste, den der Präsident kennenlernen will, ist gleichzeitig unsere Nummer 1: Aureljo!«
    Alles applaudiert, Aureljo ist aufgesprungen, er strahlt und formt, zu uns gewandt, mit Zeige- und Mittelfinger das Victoryzeichen, bevor

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