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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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stimmt, fahren wir in Richtung Süden, so wie geplant. Ich verbanne die Vision von den unterirdischen Eiskerkern aus meinem Kopf. Das ist es nicht, was man für uns vorgesehen hat.
    Eine Herde Rentiere flüchtet, als die Bahn sich nähert. Atem dampft vor ihren Mäulern und ihre Hufe treten tiefe Spuren in den Schnee.
    »Herrlich«, sagt Aureljo. »Ich habe noch nie so viele gesehen. Es muss hier ausreichend Flechten und Moose geben, das ist ein gutes Zeichen, Ria.«
    Das ist es tatsächlich. Vielleicht stimmen die Gerüchte und die Taugrenze bewegt sich nach Norden. Dann könnte es bald wieder Landwirtschaft unter freiem Himmel geben und damit viel größere Ernten, bessere Bedingungen für alle.
    Nur dass wir das nicht mehr erleben werden.
    Unser bevorstehender Tod ist mir noch nie so unfair erschienen wie jetzt, angesichts der Weite und Schönheit dieser Welt, die vielleicht sogar zu tauen beginnt. Wenn die Schneedecke fort ist, werden unglaubliche Dinge darunter zum Vorschein kommen, die keiner der heute Lebenden bisher gesehen hat.
    Die vielen Eindrücke, das Summen und Wiegen der Bahn – ich spüre, dass mir bald die Augen zufallen werden. Auch Tycho kämpft bereits gegen die Schwere seiner Lider an, sein Kopf sinkt immer wieder zur Seite.
    Hat man etwas in unsere Vitamingetränke getan?
    Eine erneute schreckliche Vorstellung. Wir werden einer nach dem anderen einschlafen und dann wird jemand mit einem Messer durch den Wagen gehen und uns die Kehlen durchschneiden.
    Nein. Wozu alles mit Blut bespritzen? Ein fest aufs Gesicht gedrücktes Kissen tut es auch. Oder eine Giftspritze.
    Mir die möglichen Todesszenarien auszumalen hat genügt, um die Müdigkeit zu vertreiben. Was bedeutet, dass man uns vermutlich doch nichts in die Getränke gemischt hat. Dafür spricht auch das Verhalten von Tomma und Fleming: Tomma hüpft vor Aufregung in ihrem Sitz förmlich auf und ab; Fleming steht am Fenster, Hände und Gesicht gegen die Scheibe gepresst.
    Ich wünschte, ich wüsste, wo wir sind. Am Horizont kommt eine Sphäre in Sicht, ich zähle achtzehn Kuppeln, doch wenn ich den Namen der Sphäre nennen sollte, könnte ich nur raten.
    »Neu-Augsburg hat achtzehn Kuppeln«, meint Aureljo. Doch auch er kann nicht abschätzen, ob wir bereits so weit gefahren sind. Wir alle sind zu ungeübt im Reisen.
    Die Kuppeln gleißen im Sonnenlicht und ich schirme meine Augen ab. Lebt dort jemand, den ich kenne? Hat es vielleicht einen von Bajas Schützlingen hierher verschlagen?
    Noch während wir rätseln, wo wir sein könnten, wird uns Essen serviert. Pilzeintopf mit Lammfleisch, für jeden das Gleiche, bei niemandem wird der Salvator zurate gezogen.
    Mein Körper sendet angesichts des Geruchs eindeutige Hungersignale aus, aber ich habe Angst, das Essen anzurühren. Sie geben uns wahrscheinlich nicht abgestimmte Nahrung, weil es ohnehin egal ist. Weil wir nicht mehr lange zu leben haben. Oder sie haben etwas untergemengt. Aus welchem anderen Grund sollten sie kostbares Lammfleisch mit minderwertigen Zuchtpilzen zu dieser labbrig klumpigen Pampe verkochen?
    »Kein Verfolgungswahn«, flüstert Aureljo und deutet mit dem Kinn auf die vier goldenen Sentinel, die am anderen Ende des Wagens sitzen und essen. Ihre Mahlzeit stammt aus dem gleichen Topf wie unsere.
    Ich warte, bis Fleming den ersten Bissen genommen hat, denn er legt ein Misstrauen an den Tag, das mir gefällt. Zuerst riecht er an dem Eintopf, lang und ausgiebig, dann kostet er eine Löffelspitze voll. Wartet. Kostet wieder.
    Gibt es Zuchtstationen für Giftpilze? Würde Tomma sie erkennen? Ich halte ihr meine Schüssel hin. »Weißt du, was das für ein Pilz ist?«
    Sie hebt einen mit der Gabel an. »Das sind Austernpilze. Wirklich, Ria, ein paar zusätzliche Lektionen in Nahrungsmittelkunde würden dir nicht schaden.«
    »Ich werde dran denken.«
    Fleming scheint es noch immer gut zu gehen. Keine Anzeichen von Schweißausbrüchen oder Krämpfen. Doch das bedeutet nichts, gerade die giftigsten Pilze zeigen ihre Wirkung erst nach Stunden.
    »Schmeckt es gut?«, frage ich ihn.
    Schulterzucken. »Ich habe keinen großen Hunger«, antwortet er leise.
    Mittlerweile hat auch Tomma zu essen begonnen und schiebt sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Dazwischen weist sie mit ihrer Gabel aus dem Fenster, wo nicht weit von der Bahnstrecke entfernt riesige Säulen aus der Erde ragen.
    Ich ducke mich instinktiv tiefer in meinen Sessel. Könnten das Waffen sein? Die Säulen stehen

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