Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
Vom Netzwerk:
blauen Hebel oberhalb der Türen stoppt der Zug.«
    Ich hebe den Kopf. Drei blaue, hakenförmige Hebel. Ich erinnere mich, dass es einmal einen Brand in der Magnetbahn gab, damals ist ein ganzer Trupp Sentinel ums Leben gekommen.
    »Sobald der Zug zum Stillstand gebracht wurde«, fährt die sanfte Frauenstimme fort, »öffnen sich die Ausgänge. Aus den Klappen über Ihren Sitzen werden Überlebenssets mit der nötigsten Ausstattung für drei Stunden ausgeworfen. Bleiben Sie nahe der Bahn und versuchen Sie nicht, sich allein durchzuschlagen. Hilfe ist unterwegs, sobald Sie den Hebel gezogen haben. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.«
    Mit einem lauten Zischen schließen sich die Türen. Dann folgt ein schwimmendes Gefühl, ein Gleiten. Die Magnetbahn hat sich in Bewegung gesetzt. Ich klammere mich an meinen Rucksack. Kann man die kleine Spitzhacke ertasten? Wird ihr Fehlen im Gewächshaus auffallen?
    Mein Salvator beginnt zu vibrieren; Aureljo bemerkt es und legt einen Arm um mich. Wahrscheinlich, um mich zu besänftigen: Sieh doch, alles ist gut, alle sind nett zu uns.
    »Denk daran, wir sind nicht irgendjemand«, sagt er stattdessen. »Wir dürfen nicht vergessen, was wir können. Aber das wirst du nicht, ich weiß es.«
    Da begreife ich, wie sehr ich ihn unterschätzt habe.
     
    Die Magnetbahn gibt ein leises Brummen von sich, während sie durch die Landschaft gleitet. Ich könnte Tycho fragen, wodurch das Geräusch entsteht, aber ich bin zu gefangen von dem Anblick, der uns umgibt. Von meinem Quartier aus kann ich nur einen einzigen Hügel sehen, aber hier reihen sie sich aneinander, ähnlich und doch unterschiedlich, wie Brüder, sanft geschwungen und schneebedeckt. Wenn man nach oben sieht, gibt es kein Ende, keine Kuppel, keine Grenze. Der Himmel liegt wie ein hellgraues Federbett hinter unendlichem Weiß und dann, plötzlich, reißt die Wolkendecke auf.
    Für einen Moment vergesse ich all meine Angst. Goldene Strahlen verwandeln das Land in ein Meer aus Kristallen, ein unberührtes, strahlendes Paradies. Man möchte sich hineinwerfen, darin versinken.
    »Sieh nur, Ria, sieh nur!«, flüstert Aureljo. Als wäre das nötig. Als würde ich meine Augen abwenden können.
    Die Gespräche im Wagen sind verstummt, alle sind gebannt von der ungewohnten Aussicht, die sich uns bietet.
    Schon nach wenigen Minuten passieren wir die Ruinen einer Stadt. Ein hoher Turm hat die Jahre fast unbeschadet überstanden, anders als die Häuser nahe der Magnetbahn – manche sind eingestürzt, nur die Größe der Schneehaufen weist darauf hin, dass sich darunter Trümmer befinden. Bei anderen fehlt das Dach oder eine Seitenwand, sie erinnern mich an die Puppenhäuser, die wir bei Baja hatten. Ich erhasche einen Blick auf ein leeres Zimmer, das nicht mehr beherbergt als einen umgekippten Sessel mit zerrissener Polsterung. Gab es jemals orangefarbene Möbel?
    Dann wieder Wildnis. Kahle Schneefelder, da und dort Sträucher. Plötzlich zwei Bäume im Windschatten einer alten Mauer. Sie sind klein und gedrungen, ihre Nadeln sind dunkel.
    »Föhren«, jauchzt Tomma. »Ich glaube, die sind natürlich gewachsen. Nicht gepflanzt!«
    Dantorian hat eilig seine Zeichenutensilien hervorgeholt, mit sicheren, schnellen Strichen skizziert er die beiden Bäume und die Mauer. Jedes fertige Blatt verstaut er in seiner Mappe.
    »Du bist richtig gut«, sage ich. Es ist Zeit, dass wir ins Gespräch kommen. Ich muss ihn besser einschätzen können. »Kein Wunder, dass die Akademie dir so viel Papier zur Verfügung stellt.«
    Er sieht nicht auf, sondern zeichnet weiter, während er antwortet. »Tut sie nicht. Ich mache es selbst, aus Neupapier. Davon kriegt man, so viel man möchte.«
    Die Tatsache, dass man aus Neupapier brauchbares Papier herstellen kann, wenn man weiß, wie, würde mich unter normalen Umständen sehr interessieren. Heute nehme ich das nur nebenbei zur Kenntnis. Dantorians Körpersprache signalisiert, dass er in Ruhe gelassen werden möchte. Ich frage mich, ob er rechtzeitig aus seiner Konzentration auftauchen kann, sollte etwas geschehen.
    Doch die ersten zwei Stunden unserer Fahrt verlaufen völlig ereignislos, wenn man von der fantastischen Landschaft absieht, die wir durchqueren. Mehrmals passieren wir riesige glitzernde Flächen, klar wie Glas. Seen, seit Jahrzehnten zugefroren, blanke Spiegel für den Himmel und die Sonne, die sich uns immer wieder zeigt, als wolle sie uns weiter und weiter locken.
    Wenn meine Orientierung

Weitere Kostenlose Bücher