Die Verratenen

sich verstecken?
    Ich erinnere mich an die vielen Male, wenn verletzte oder tote Sentinel in die Sphäre zurückgebracht wurden: Angriff der Außenbewohner. Hinterhalt. In eine Falle gelockt.
    Hier wäre es umgekehrt, aber wer würde das erfahren?
    »Eher ein Spähtrupp als ein Kampftrupp«, flüstert Lennis.
    Sandor nickt. »Trotzdem«, sagt er, mit einem Blick auf mich.
    Ich atme tief durch. Bedeutet das, er hat mir abgenommen, was ich ihm bei unserer ersten Begegnung erzählt habe? Dass wir von unseren eigenen Leuten gejagt werden? Wahrscheinlicher ist, dass ihn meine Reaktion eben überzeugt hat. Meine Angst vor den eigenen Leuten.
    Wir warten. Die Kälte ist erträglich und immer wieder tropft Wasser von den Bäumen. Fiores Worte kommen mir in den Sinn: Überall dort, wo es taut, sind die Lieblinge sofort zur Stelle. Mit Waffen oder mit Essenspaketen.
    Sind die Sentinel deshalb hier? Wenn sie wissenschaftliche Messungen vornehmen, müssten es blaue sein, die sind ungefährlich.
    Ich behalte unsere Späher im Auge, ich will das Zeichen der Entwarnung nicht verpassen.
    Es dauert lange. Oder es kommt mir zumindest so vor, denn keiner aus der Jägergruppe sagt ein Wort. Das muss zu den Verhaltensregeln gehören und wahrscheinlich ist es sehr vernünftig. Aber mich würden ein paar erklärende Worte – Was kann passieren? Und was soll ich tun, wenn es passiert? – sehr beruhigen.
    Dann, eine halbe oder eine Stunde später, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, hebt einer der Späher die Hand, die Finger in rechtem Winkel zur Handfläche geneigt. Damit beschreibt er in der Luft einen kleinen Halbkreis von rechts nach links, bevor er die Hand zur Faust ballt.
    Keine Ahnung, was es bedeutet, aber die Prims um mich herum entspannen sich.
    Ich versuche, mir die Geste zu merken. Rechter Winkel, Halbkreis, Faust. Ich probiere es selbst, ahme nicht nur die Bewegung, sondern auch die Geschwindigkeit nach.
    »Nicht schlecht«, flüstert jemand neben mir. Lennis.
    »Was bedeutet es?«, flüstere ich zurück.
    Er macht es vor. »Die Finger abgeknickt und aneinandergelegt heißt: Der ganze Trupp bewegt sich gemeinsam, sie teilen sich nicht auf, es bleibt auch keine Wache zurück. Die Drehung mit der Hand zeigt die Richtung an, in die der Trupp marschiert. Und die Faust schließt die Nachricht ab, sie steht am Ende jeder Geste.«
    Nun, da ich die Bedeutung kenne, merke ich mir den Ablauf leichter. Ich versuche zu variieren, eine andere Richtung anzuzeigen. Wie würde die Geste aussehen, wenn die Sentinel geradeaus gehen?
    »Sehr lernfreudig.«
    Ich bin so konzentriert, dass ich Sandor, der plötzlich nur noch wenige Schritte neben mir steht, nicht bemerkt habe. Schnell senke ich meine Hand.
    »Ja«, komme ich einer weiteren spöttischen Bemerkung zuvor. »Lernfreudig. Spricht etwas dagegen?«
    Er verzieht den Mund zu einer Art Lächeln. Hebt die Hand und antwortet in Zeichensprache.
    »Sehr witzig.« Ich wende mich ab.
    »Die Sentinel sind fort«, höre ich ihn sagen. »Dafür haben wir Wildschweinspuren gefunden.« Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Sandor die Spitzen des Daumens, des Mittelfingers und des kleinen Fingers aneinanderlegt, Zeige- und Ringfinger streckt er gerade nach vorne. »Das ist das Zeichen für Wildschwein. Schadet nichts, es zu kennen.«
    Wir treten aus dem Wald. Lennis zeigt mir die Spuren, die meisten sehen aus wie Croissants – gebogen und spitz an den Enden. Darunter, wie Blätter unter einer Blüte, verlaufen rechts und links Striche. Ich versuche mich zu erinnern, wie die Füße eines Schweins aussehen.
    »Wenn wir eins stellen, halte dich im Hintergrund«, rät Lennis mir. »Bleib nah bei einem Jäger mit einer starken Waffe.«
    Ich befolge seinen Rat insofern, als ich mich an ihn halte. Auch wenn er nur mit einem Bogen und einer Schleuder ausgerüstet ist, in seiner Gegenwart fühle ich mich am sichersten.
    Wir folgen den Spuren langsam und vorsichtig. Es müssen mehrere Tiere sein, aber das ist auch schon alles, was ich erkennen kann. Nicht lange, und wir stoßen auf einen schneefreien Fleck. Aufgerissene Erde, Matsch, Steine.
    Und dann kann ich eins der Wildschweine sehen. Es steht ruhig im Schatten einer kleinen Baumgruppe und hat den Kopf in unsere Richtung gedreht.
    Die Jäger sind stehen geblieben. Sie unterhalten sich in ihrer stummen Sprache, ich sehe mehrmals das Zeichen für Wildschwein, beginne allmählich, mir das eine oder andere Wort zusammenzureimen. Ein schnell nach vorn