Die verschollene Karawane
neben dem Toten lagen winzige Glassplitter, die vielleicht von der Brille des Mönches stammten. Das ließ den Verdacht begründet erscheinen, dass es zwischen dem Opfer und diesem jungen Mönch zu einem Handgemenge oder gar zum Kampf gekommen war. Möglicherweise verbarg der Mönch seine Brille in der Tasche seiner Kutte. Commissario Toscanelli entschied, den jungen Mönch später zu befragen.
»Über die Besuchergruppe vom gestrigen Tag werden wir noch reden müssen, Pater. Aber alle Brüder des Klosters stehen mir wohl für meine Fragen zur Verfügung, oder?«
Der Mönch mit dem Kinnbart räusperte sich betroffen. »Ja, äh… nein, Commissario. Einer fehlt! Bruder Elias ist verschwunden!«
Commissario Toscanelli sah, wie sich Schamröte über das Gesicht des blässlichen Priors legte, als dieser erklärte: »Bruder Elias hatte gestern die Aufgabe, während des ganzen Tages unsere Mitbrüder drüben in Burano am Landungssteg zu empfangen und sie zu dem Taxiboot für die Fahrt zur Insel zu geleiten. Sie müssen wissen, Bruder Elias spricht viele Sprachen. Aber er ist seit gestern Nachmittag spurlos verschwunden.«
Eine halbe Stunde später, Nebelschwaden zogen noch immer über die Lagune von Venedig, fand Commissario Toscanelli das bestätigt, was er intuitiv geahnt hatte. Kaum hatte das Polizeiboot am Landungssteg der Linie 41 im Hafen von Murano angelegt und der ihn begleitende Prior die mit einer Plane zugedeckte Wasserleiche gesehen, stand fest, dass es sich bei dem zweiten Toten um den Mönch Elias aus dem Kloster handelte. Wenngleich die Beamten der Spurensicherung mit ihren ersten Untersuchungen noch nicht fertig waren, so schien doch ziemlich sicher, was geschehen war.
Der tote Mönch war bis auf seine Unterhose unbekleidet. An seiner rechten Schläfe war eine faustgroße Wunde zu sehen. Alles deutete darauf hin, dass der Mönch erst bewusstlos geschlagen und dann ins Wasser gestürzt worden war. Mit der Flut war sein Körper dann offensichtlich vom Kloster stadteinwärts bis in die Höhe von Murano getrieben, wo ein Fischer die Leiche heute Früh entdeckt hatte. Eine Frau vom Fischmarkt hatte den Toten als Mönch vom nahen Kloster erkannt und die Polizei angerufen.
Knapp acht Kilometer, so schätzte Commissario Toscanelli, waren es vom Kloster bis nach Murano. Wahrscheinlich war die Leiche in der Nacht in der Lagune umhergetrieben. Der Körper des dicklichen Bruder Elias war bereits aufgedunsen. So nackt wie er war, lag das Motiv des Mordes auf der Hand: Jemand hatte die Kutte des Mönches gebraucht. Wahrscheinlich, um sich im Kloster San Francesco del Deserto unbemerkt bewegen zu können.
»Zwei Tote, zudem noch zwei Mönche, innerhalb so kurzer Zeit, das hatte ich auch noch nicht«, resümierte Commissario Toscanelli während der Rückfahrt nach Venedig und gab seinem Assistenten einen Auftrag: »Pietro, ich möchte so schnell wie möglich die beiden Autopsieberichte haben. Und die Spurensicherung soll sich auch beeilen. Mist, dass seit dem Mord im Kloster so viel Zeit vergangen ist. Ich finde es zudem höchst seltsam, dass ausgerechnet heute Nacht angeblich das Telefon im Kloster nicht funktioniert hat. Wer weiß, ob unsere ehrwürdigen Brüder den Tatort nicht ein wenig aufgeräumt haben. Die haben vielleicht eine etwas andere Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit als wir. Irgendetwas verheimlichen die uns! Pietro, stellen Sie zwei Beamte ab, die auf die Mönche im Kloster aufpassen. Ich will nicht, dass noch einer von denen ins Wasser fällt oder sonst wie auf wundersame Weise verschwindet. Außerdem möchte ich mit allen morgen im Lauf des Vormittags sprechen. Und noch was, Pietro, sprechen Sie möglichst bald mit dem Fahrer des Bootes, mit dem die dreizehn Mönche gestern von Burano auf die Klosterinsel gekommen sind. Ich will genau wissen, wann sie im Kloster angekommen und wieder abgefahren sind. Da dieses Inselkloster wie eine Festung gebaut ist, kann eigentlich nur ein Mönch der Mörder von Charles Bahri und von Bruder Elias gewesen sein.«
Wenige Stunden später stürmte Pietro in Commissario Toscanellis Büro. Der junge Mann war sichtlich aufgeregt.
»Also, die erste Sensation! Der ehemalige Mönch Charles Bahri ist nicht ermordet worden!«
»Was?«, entfuhr es dem Commissario. »Nicht ermordet? Aber der war tot, stranguliert! Das war doch mehr als eindeutig!«
»Ja, es sah so aus. Aber die Gerichtsmediziner sind zu einem völlig anderen Schluss gekommen. Die
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