Die verschollene Karawane
Obduktionsergebnisse lassen keine Zweifel zu. Charles Bahri ist zwar an der Statue des heiligen Franz von Assisi gefesselt worden, am Hals – und zwar ganz offensichtlich mit jener Kordel, die der tote Mönch Elias für seine Kutte benutzt hatte. Das haben erste DNA-Tests ergeben. Aber er ist nicht umgebracht worden.«
Commissario Toscanelli starrte seinen jungen Kollegen ungläubig an: »Pietro, Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass Bruder Elias, also die Wasserleiche, diesen Charles Bahri gefesselt hat, oder?«
»Nein, das hat er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht getan«, lachte Pietro. »Fakt aber ist, dass der tote Charles Bahri auf der Flucht vor seinem Verfolger etwas heruntergeschluckt hat. Und zwar ein ziemlich großes Stück Papier. Nachdem er mit dem Strick um den Hals an die Statue gefesselt worden war, hat man ihn offensichtlich durch Schläge zum Sprechen bringen wollen. Die Verletzungen in seinem Gesicht sprechen für diese These. Doch dann hat der Angreifer von seinem Opfer abgelassen. Vielleicht ist er gestört worden. Möglicherweise von der letzten Besuchergruppe, die durchs Kloster geführt wurde.«
»Aber wie, zum Teufel, ist der arme Kerl dann gestorben?« Commissario Toscanelli war aufgewühlt. Die ganze Angelegenheit wurde immer verworrener.
»Er ist erstickt, Chef. Ganz einfach erstickt! Und zwar an dem, was er heruntergeschluckt hatte: ein zusammengeknülltes Blatt Papier. Der Täter hatte ihm einen Knebel aus einem Stück Stoff in den Mund gesteckt, wahrscheinlich, um ihn daran zu hindern, zu schreien – «
»Warum habe ich dann keinen Knebel gesehen?«, unterbrach der Commissario. »Ich habe mir den Toten genau angeschaut. Das Papier im Mund habe ich gesehen, aber keinen Knebel!«
»Si, si…«, fuhr Pietro fort, »wahrscheinlich war der Würgereiz bei dem Opfer so intensiv, dass es beim Hochwürgen des Papierknäuels den Knebel aus dem Mund herausgedrückt hat. Jedenfalls lag der Knebel mit dem Speichel des Toten und Resten des Erbrochenen in der Betnische.«
»Mensch, Pietro, machen Sie mich nicht verrückt. Ich habe doch Augen im Kopf. Da war nichts! Weder neben noch vor dem Toten. Wo soll dieser Knebel denn hin verschwunden sein? Haben die Mönche -?«
»Nein, nein! Es ist ganz einfach, Commissario! Auf dem Boden der Betnische ist ein mit einem Eisengitter gesichertes Loch, vielleicht 30 Zentimeter breit und knapp einen halben Meter lang. Darunter haben Archäologen die antiken Fundamente des Klosters freigelegt und für Besucher sichtbar gemacht. Der Knebel lag in dieser Öffnung! Das Opfer hat sich wahrscheinlich wegen des verschluckten Papiers übergeben müssen. Unter dem Druck des Erbrochenen ist der Knebel dann aus dem Mund raus- und in das Loch im Boden gefallen. Erstickt ist der arme Kerl. An dem Papier und an seinem Erbrochenen. Er muss Höllenqualen gelitten haben in seinem Todeskampf. Seine Fingernägel sind alle abgebrochen, weil er sich in den Fugen der Steinplatten auf dem Boden festgekrallt hat. Grausig! Der alte Mann ist langsam und qualvoll krepiert. Hat bestimmt eine Viertelstunde gedauert, wie die Gerichtsmediziner sagen. Der ist an dem gestorben, was er dem Täter vorenthalten wollte, und es deshalb verschluckte.«
Commissario Toscanelli lief in seinem Büro auf und ab. Die neue Sachlage dokumentierte einerseits die hervorragende Arbeit der Gerichtsmediziner und der Kollegen von der Spurensuche. Andererseits ließ sie neue Fragen aufkommen. »Wer, zum Teufel, hat Charles Bahri geknebelt? Wie ist der Täter ins Kloster gekommen?«
»Wer es war, weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, wer es nicht war! Nämlich der tote Mönch Elias!«
»Wer sagt das?«
»Meine Logik, Chef! Die Armbanduhr von Elias ist um 17.16 Uhr stehengeblieben.«
»Als man ihn ins Wasser warf, gestern Nachmittag.«
»Richtig! Aber die Gerichtsmediziner sagen, dass der Tod von Charles Bahri mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erst gegen Viertel nach sechs eingetreten ist. Da war Bruder Elias aber schon tot. Was den Schluss zulässt, dass einer der Besucher der Mörder gewesen war, also einer der Franziskanermönche – «
»Oder einer der fünf Klosterbrüder«, unterbrach Commissario Toscanelli seinen jungen Kollegen.
Der Assistent schaute seinen Vorgesetzten an und verdrehte die Augen. »Um Gottes willen! Diesen Verdacht sollten Sie vorerst lieber nicht an die große Glocke hängen, Commissario. Wir sind hier in Venedig. Nach Rom ist das die
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