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Die verschollene Karawane

Titel: Die verschollene Karawane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ackermann
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den sechs größten, ein absoluter Machtfaktor in Venedig. Wer zu dieser Bruderschaft gehörte, drehte mit an den Rädern der Weltgeschichte, mein Lieber!«
    Fasziniert lauschte Peter den Ausführungen seiner Freundin und blickte sie gebannt an. Wie sie ihm so gegenüber im Halbschatten vor dem Hintergrund des kleinen Kanals saß, mit ihren langen, blonden Haaren, dem kleinen Grübchen auf der rechten Wange und hoch konzentriert dozierend, spürte er eine tiefe Zuneigung und grenzenlosen Respekt für sie.
    »Du bist eine grandiose Frau«, murmelte er. »Aber sag mir doch bitte, warum du mir das alles erzählst. Was hat das mit diesen Skizzen und dem Libretto zu tun?«
    Yvonne spürte, wie plötzlich wieder jenes Gefühl in ihr aufwallte, von dem sie schon lange wusste, dass es Liebe war. Traurigkeit krampfte ihren Magen zusammen. Peter mochte sie, das war gerade deutlich zu erkennen. Er begehrte sie körperlich, schätzte ihre Belesenheit, hatte sie als Freundin sehr gern. Doch er liebte sie nicht. Oder es gelang ihm perfekt, seine wahren Gefühle zu kaschieren. Schämte er sich, sie zu lieben, weil er glaubte, damit seine tiefe Liebe für seine verstorbene Frau zu verraten?
    Ihre Stimme flatterte. »Also du hast mir doch diese Notiz deines Freundes gegeben, den du in Ägypten von der Putzfrau erhalten hast. Da stand unter anderem drauf: ›Das Gute wandelt sich zum Bösen, aus Osten wird Westen und aus oben wird unten – und der maurische Bruder hat es schon damals gewusst.‹ So in etwa hat er es doch geschrieben, oder?«
    »Richtig, so in etwa.«
    »Und du hast gesagt, dass mit dem maurischen Bruder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der weltberühmte Kartograf Fra Mauro gemeint war, oder?«
    »Ja, genau, damit war Fra Mauro gemeint. Er hat im Jahre 1459 eine für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Weltkarte geschaffen. Wie du ja weißt, hängt sie in der Biblioteca Nazionale Marciana. Dieser Mönch hat so ziemlich alles, was damals an Wissen überhaupt von der Welt verfügbar war, zusammengetragen. Antike und auch arabische Quellen hat er berücksichtigt. Er war genial, dieser Fra Mauro!«
    »Und woher kam dieser Mönch?«, fragte Yvonne schnippisch.
    Peter grinste. Er schaute sie liebevoll an. »Du bist genial! Einfach umwerfend! Ja, du hast Recht: Fra Mauro schuf diese Karte im Kloster San Michele, draußen in der Lagune von Venedig bei Murano, wo er übrigens auch begraben ist. Diese wunderschöne Friedhofsinsel ist nicht weit von dem Kloster entfernt, wo sich Charles jetzt wohl aufhält. Wahnsinn! Ich denke, wir sollten schnellstmöglich zusehen, dass wir zu diesem Kloster kommen. Langsam glaube ich nämlich nicht mehr, dass es eine solche wundersame Aneinanderreihung von Zufällen gibt.«
    »Was meinst du damit?«, fragte Yvonne stirnrunzelnd. Der nachdenkliche Ton ihres Freundes war ihr nicht entgangen.
    Peter schwieg einen Moment. Dann resümierte er: »Der Besitz von Landkarten war damals ein Privileg der Mächtigen. Nur Monarchen, die Kirche und der Adel wussten, wo die wirtschaftlichen wie auch religiösen Zentren der Welt lagen. Auf Karten verbargen sich Staatsgeheimnisse. Europa, wie wir es heute nennen, war jedoch ab dem achten Jahrhundert im Süden und Südosten von islamischen Heeren umzingelt. Was außerhalb des Abendlandes geschah, entzog sich dem Wissen der Europäer. Damals wurde sogar von einer ägyptischen Finsternis gesprochen, weil plötzlich niemand mehr wusste, was im Schatten der Pyramiden und im Fernen Osten geschah. Nordafrika und der Nahe Osten waren fest in arabischer Hand. Das hat den Handel der europäischen Handelshäuser fast zum Erliegen gebracht. Seefahrernationen wie Spanien, Portugal, die Niederlande – besonders aber die italienischen Hafenstädte Genua und Venedig – litten extrem darunter. Stoffe, Gewürze, Zedernholz, Edelsteine und der so heiß begehrte Weihrauch kamen aus dem Orient, und plötzlich saßen dort in all den Häfen die Araber! Der so genannte Levantehandel kam fast zum Erliegen. Natürlich haben sich diese Staaten überlegt, wie sie den Zwischenhandel mit den Arabern umgehen können. Dafür war geografisches Wissen nötig. Man brauchte Karten: Land- wie auch Seekarten. Unter diesen Gesichtspunkten ist es allerdings enorm aussagekräftig, dass die weltberühmte Karte von Fra Mauro letztendlich eine Auftragsarbeit war.«
    Yvonne schaute ihren Freund fasziniert an. Sie bewunderte seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge so prägnant

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