Die verschollene Karawane
zusammenzufassen. »Jetzt sag schon, wer ihm diesen Auftrag erteilt hat! Ein Doge aus Venedig?«
»Nein, meine Liebe, kein Doge. Es war der portugiesische König, Alfons V.! Damals trachteten die Portugiesen ebenso wie die Spanier nach der Kontrolle des Seewelthandels. Eine solche unter handels- wie auch militärstrategischen Aspekten unglaublich bedeutsame Karte, wie sie Fra Mauro anfertigte, weckte die Begehrlichkeiten vieler Staaten. Damals ging es darum, den großen Handelskuchen Welt aufzuteilen!«
»Das hört sich ja fast wie ein Politthriller an, was du da erzählst. Fehlen nur noch Intrigen, Wirtschaftsspionage, Agenten, Mord und Totschlag«, warf Yvonne ein und fuhr fort: »Zur Erzbruderschaft Scuola Grande di San Rocco gehörten damals die mächtigsten Männer Venedigs! Bestimmt wussten die Mitglieder genau, woran Fra Mauro arbeitete. Und – «
Peter signalisierte ihr durch eine dezente Handbewegung, dass er etwas sagen wollte. »Direkt gegenüber dem Sitz der Erzbruderschaft liegt die Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari.«
Yvonne blickte ihn fragend an: »Ja, und?«
»Ganz einfach, es ist eine Franziskanerkirche! Charles war früher Franziskanermönch. Und das Kloster, in dem Charles früher lebte und wo er sich gerade versteckt hält, ist ein Franziskanerkloster. Yvonne, hier geht es um die Franziskaner! Die Dimension dessen, was ich dir jetzt erzähle, wird allerdings erst dann klar, wenn du weißt, dass damals jede Expedition, also auch die Erkundungsfahrten der portugiesischen Seefahrer, in Begleitung eines Kirchenrepräsentanten stattfanden. Der Papst schickte Aufpasser mit. Nichts geschah ohne Wissen Roms, da es bei diesen Expeditionen angeblich auch um die Missionierung der Heiden ging. Und einer der ersten portugiesischen Entdeckungsreisenden, die damals zum heutigen Äthiopien vordrangen, war Francisco Álvares. Und der war auch Franziskaner! Das ist kein Zufall. Hier geht es eindeutig um die Franziskaner. Außerdem hat Charles in seinem Brief noch etwas sehr Seltsames geschrieben. Warte mal…« Peter kramte den Zettel seines Freundes hervor. Hektisch überflog er die handschriftlichen Notizen. »Hier, das ist die Stelle: ›… und der maurische Bruder hat es schon damals gewusst! Auch die Geschichte mit Johannes wusste er‹.« Er atmete nun auffällig schnell. »In dieser nach außen hin sehr schlichten gotischen Frari-Kirche, liebe Yvi, liegt nicht nur Tizian begraben. Da steht auch eine weltberühmte Skulptur von Donatello. Die Skulptur von Johannes! Ich fasse das alles nicht. Mein armer kleiner Kopf! Fra Mauro, der damals schon alles wusste… und nun auch noch Johannes, den Charles ebenfalls in seinem Brief erwähnt. Und soll ich dir noch was sagen? Auf dieser Karte von Fra Mauro gibt es am Rand unzählige handschriftliche Kommentare. Bei einem dieser Kommentare geht es, na, was glaubst du wohl?«
Yvonne grinste. »Lass mich raten! Um einen Johannes?«
»Genau! Um einen mystischen Johannes. Der Franziskaner Francisco Álvares schrieb nach seiner Rückkehr aus Äthiopien damals ein Buch Verdadeira Informação das Terras do Preste João das Índias – wobei ›João‹ nichts anderes als ›Johannes‹ heißt! Und ›Índias‹ entspricht ›Indien‹. Auf dem Umschlag des Buches war sogar ein schwarzhäutiger Regent auf seinem Thron abgebildet. Auf der genuesischen Weltkarte von 1457 ist ein mystifizierter Johann sogar gleich zwei Mal abgebildet. Auf einer späteren Ortellius-Karte auch. Und dort sitzt er ebenfalls in einem prächtigen Ornat auf einem Thron. Ich werde verrückt! Ich weiß nämlich, worum es bei diesem ganzen Versteckspiel geht: um den legendären, unvorstellbar reichen und mächtigen christlichen Priesterkönig Johannes! Charles muss etwas über ihn und über sein sagenumwobenes christliches Reich erfahren haben.«
Vor lauter Aufregung verschluckte sich Peter und musste etwas trinken.
Yvonne schaute ihn fragend an. »Und was hat es mit diesem Priesterkönig auf sich?«
»Er ist eine mystische Figur, die über Jahrhunderte hinweg europäische Herrscher und vor allem die Kirchenfürsten, ganz besonders aber die Päpste beschäftigte. Es hieß damals, dass dieser Priesterkönig über ein unvorstellbar großes Christenreich in einem fernen Land herrsche, unglaublich reich sei und ein Heer mit zwei Millionen Soldaten befehlige. Wobei man keine Ahnung hatte, wo dieses Christenreich liegen sollte. Dennoch geisterte vom zwölften Jahrhundert an dieser Johannes durch
Weitere Kostenlose Bücher