Die verschollene Karawane
jetzigen Wissensstand, Menschen von Äthiopien Richtung Westafrika aufgebrochen. Quer durch die Sahara. Ein unglaublich strapaziöses, lebensgefährliches Abenteuer. Wer diese Menschen waren und was sie transportierten, weiß ich nicht. Es muss etwas sehr Kostbares gewesen sein, etwas Geheimnisvolles, von großer mystischer Bedeutung für Äthiopien. Mehr weiß ich noch nicht. Aber ich hoffe, dass wir nachher mehr erfahren werden. Ich habe da was arrangiert.«
Vor dem Hauptportal des Hieronymusklosters bogen sie nach links ab, folgten einigen Treppenstufen hinab in einen idyllischen Hof. Mächtige Bananenbäume flankierten den Haupteingang der Biblioteca Central da Marinha, der Zentralbibliothek des Marinemuseums. Der hässliche Betonbau mit den Aluminiumtüren bildete einen an Stillosigkeit nicht mehr zu übertreffenden Kontrast zu den wundervollen Sakralbauten des Klosters.
Jahzara war sich nicht sicher, ob Peter im Café nicht doch etwas gemerkt hatte. Schon als Kind hatte sie nicht gut lügen können. Wenn sie es tat, bekam ihre Stimme einen eigentümlichen Klang. Wer sie kannte, wusste das. Aber Peter kannte sie noch nicht gut genug. Es waren diese wenigen Worte in Ge’ez auf der Landkarte von Peter gewesen, die ihr den Atem hatten stocken lassen. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass diese Worte nicht identisch seien mit denen auf ihrer Karte. Doch das war eine Lüge gewesen. Ebenso, wie es eine Lüge war, dass sie nicht wisse, was da geschrieben stand. Es hieß M-u-s-s-i-e!
Seitdem war sie sehr nervös und hatte noch mehr Angst als zuvor. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis auch Peter in Erfahrung bringen würde, was dieses Wort bedeutete: M-u-s-s-i-e war gleichbedeutend mit Moses! Sie wusste von der uralten Kirche in der altäthiopischen Kapitale Aksum, die Zellate-Mussie genannt wird. Und sie kannte den Passus aus einem altäthiopischen Text, in dem es hieß: »… in diesem Gotteshaus ist das höchste Heiligtum der abessinischen Religion verwahrt, die Tafeln Moses’ mit den Zehn Geboten…« Damit war klar, dass hier eine direkte Verbindung zu einem der mystischsten Gegenstände des Christentums angedeutet wurde: der Bundeslade.
Im Foyer eilte ein junger Sicherheitsbeamter mit grimmigem Blick auf sie zu: »Tut mit leid, wir haben wegen Umbau geschlossen – «
Bevor er weitersprechen konnte, öffnete sich die Tür hinter dem Empfang und eine ältere Dame kam auf sie zu. Jahzara ging lächelnd auf sie zu, küsste sie auf die Wangen und wandte sich zu Peter: »Darf ich dir Pauline vorstellen, meine Mutter?«
Pauline Jan-Zela war fast 60 Jahre alt, groß, extrem übergewichtig und hatte unter ihrem tief in die Stirn fallenden Pony sehr kecke, vor Lebenskraft sprühende braune Augen, mit denen sie Peter ungeniert musterte. Der Schalk in ihren Augen war nicht zu übersehen: »Liebe Jahzara, du bist die klügste und wahrscheinlich auch hübscheste Äthiopierin in Lissabon. Alle Männer dieser Stadt, die klugen wie die einfältigen, die reichen wie die armen, liegen dir zu Füßen. Und was macht du: Kommst mit einem Mann daher, der dein Vater sein könnte – jedenfalls fast.«
Peter schaute verblüfft zu Jahzara. Ihr waren die Worte ihrer Mutter sichtlich peinlich. Verschämt schaute sie auf den Boden und schubste sie mit dem Ellbogen an: »Ach, du! Was du schon wieder denkst. Wir helfen uns nur gegenseitig bei einigen Nachforschungen. Mehr nicht. Peter kennt sich in Afrika gut aus. Aber das habe ich dir ja schon erzählt. Sag mir lieber, ob dein Freund hier in der Bibliothek was gefunden hat.«
Peter musste grinsen, allerdings stimmten ihn Jahzaras Worte auch nachdenklich. Er fragte sich, ob das ein unmissverständliches Signal gewesen war. Und ob sie in den letzten zwei Tagen gespürt hatte, dass er sie begehrte. Er hatte Jahzara erzählt, dass er sich von Yvonne getrennt hatte und dass sie nach Deutschland zurückgeflogen sei. Aber glaubte Jahzara das? Sie war noch sehr jung. Vermutlich trennten sie gut und gerne 15 bis 20 Jahre. Außerdem trennten sie nicht nur Jahre, sondern auch andere Dinge, ihre Kulturen, Lebenseinstellungen, Wünsche, Träume, Hoffnungen. In einem hatte ihre Mutter aber Recht: Eine so attraktive, junge, und zudem kluge Frau wie Jahzara hatte sicherlich keinen Mangel an interessierten Männern. Er stutzte. Wieso hatte sie eigentlich keinen Freund? Mit Ende 20 hatten die meisten Frauen zwischen Kapstadt und Kairo bereits sogar Kinder.
Pauline unterbrach seine Gedanken:
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