Die verschollene Symphonie
Ergänzung des Neuen Testaments abgegeben. Es gab noch weitaus haarsträubendere Geschichten über ihn: Man hielt ihn für den Anführer eines Prostitutionsringes und glaubte, ihm würde ein zweiter Kopf aus dem Nabel wachsen; manch einer behauptete, er würde gar keinen Nabel besitzen, sondern stattdessen eine Art hermaphroditische Körperöffnung und wolle die Welt mit Feuer reinigen, um sie anschließend in eigener Regie wiederzubevölkern; es hieß, er hätte einen Zwillingsbruder, der von einer ägyptischen Pyramide in den Himmel hinaufgetragen worden sei und so weiter und so fort. Und das waren nur die Gerüchte, die sich die Ältesten erzählten. Diese Geschichten hatten jedoch eines gemeinsam: Sie folgten Jesus auf dem Fuße, wie eine Seuche. Man brauchte nur der Spur der Geschichten zu folgen, um ihn selbst zu finden – das zumindest war meine Absicht. Ich wollte ihn treffen, und sei es nur, um mich zu vergewissern, dass es ihn wirklich gab. Schwindler und Scharlatane waren in der damaligen Gesellschaft genauso zahlreich wie heute. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch er nur ein ganz normaler Mensch, der zufälligerweise über eine besondere Ausstrahlung verfügte und spannende Geschichten erzählen konnte. Aus irgendeinem Grund neigte ich dazu, den Gerüchten über ihn Glauben zu schenken. Allerdings schienen auch eine Menge anderer Menschen diese Geschichten zu glauben, und dadurch kam er in den Ruf, mehr als nur ein einfacher Lehrer zu sein. Kurz gesagt, er war ein Volksverhetzer, und in einer Gesellschaft, die von modrigen Traditionen beherrscht wurde, konnte man dies unmöglich dulden. Die Mächtigen taten also das Einzige, was ihnen ihrer Meinung nach übrig blieb: Sie gaben den schwarzen Peter weiter und stifteten die Regierung dazu an, ihn umzubringen.«
»Warum glauben Sie an Satan, Corwin?«
»Aus zwei Gründen«, sagte Maddox und lehnte sich gelassen auf seinem Stuhl zurück. »Erstens glaube ich an ein Gleichgewicht im Universum. Für jeden Jesus Christus muss es eine gleiche Anzahl von Gegenspielern geben. Und zweitens glaube ich an ihn, weil ich ihm begegnet bin.«
»Wie sind Sie ihm begegnet?«
»Nun«, sagte Maddox sachlich, »ich habe zweitausend Jahre auf die Rückkehr des Heilands gewartet und bin für meine Geduld nur wenig belohnt worden. Ich dachte also, ich hätte nichts zu verlieren, wenn ich einmal zur Abwechselung eine Zeit lang nach einem anderen bedeutenden Mann suchen würde.«
»Sie glauben, Satan ist ebenso bedeutend wie Jesus?«
»Nun, wenn nicht er, wer dann?«, sagte Maddox. »Ich habe aus persönlichen Gründen nach ihm gesucht und nicht, um eine Titelstory über ihn zu schreiben. Außerdem halte ich mich an das Gebot: ›Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.‹«
»Sie würden Satan nicht verurteilen?«
»Ich gebe Boulevardzeitungen heraus. Ich kenne die schwärzesten Abgründe des Lebens. Dem Mythos zufolge ist Satan einer der ›Ersten unter den Herren des Himmels‹ gewesen, und selbst nach seinem angeblichen Fall mangelt es mir an empirischen Beweisen, um den Burschen zu verurteilen.«
»Obwohl ihm in den meisten Kulturen die Schuld am Bösen in der Welt zugeschrieben wird?«
»Gerade deswegen. Das sind Gerüchte und Andeutungen. Sagen Sie mir, Frau Doktor – glauben Sie, es gibt Menschen, die Satan anbeten?«
»Ja.«
»Wie oft haben Sie gehört, dass diese Menschen jemanden in seinem Namen umgebracht haben?«
»Einige dutzend Male, glaube ich«, sagte Doktor Kapelson. »Aber viele dieser Fälle lassen sich wohl auf eine Geisteskrankheit zurückführen.«
»Also gut. Und wie oft haben Sie schon gehört, dass ein Christ einen anderen umgebracht hat, im Namen des Gottes, zu dem sich beide bekennen?«
Doktor Kapelson blinzelte. Sie wusste nicht, was sie darauf hätte erwidern können.
»Ja, Frau Doktor«, sagte Maddox und beugte sich vor. »Millionen Mal. Also lassen wir die Unwägbarkeiten aus dem Spiel, in Ordnung? Jedes Gespräch hat seine Untiefen. Ich habe nach ihm gesucht. Ich habe ihn gefunden. Ich bin unter seinen Einfluss geraten und habe den finsteren Hurensohn befreit.«
»Vor vielen Jahren auf einer Reise durch die Ukraine habe ich in einer Bar einen Mann namens Stiefelchen kennen gelernt. Er hatte sich nach kurzer Ehe gerade von einer jungen Frau getrennt und machte seiner Trauer und Reue über den Verlust Luft, indem er jeden verprügelte, der nicht mit ihm trinken wollte. Kaum jemand weigerte sich. Aus
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