Die verschollene Symphonie
zu Mikaal Gunnar-Galen haben.«
»Das habe ich schon beim ersten Mal verstanden«, sagte Marisa verärgert und ein wenig verlegen, dass sie seine Wünsche nicht strikter befolgt hatte. »Warum sagen Sie mir das jetzt noch einmal?«
»Weil«, erwiderte Doktor Syntax, »ich wegen Ihres Gesprächs mit ihm meine Pläne über seine mögliche Behandlung revidieren musste. Ich befürchte, dass Ihr Zusammentreffen, wenn es auch nur kurz war, die Parameter seiner Wahnvorstellungen verändert haben könnte.«
»Wie das?«
»Weil er Sie als ›Kriemhild‹ identifiziert hat. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Was wissen Sie über den Hintergrund des Ereignisses in Bayreuth? Über den Ring- Zyklus oder Wagner?«
»Ich habe ein wenig über Wagner und das Nibelungenlied in der Schule gelernt, aber ich fürchte, ich weiß nicht viel über das Festival selbst«, gab Marisa zu.
»Ich vergesse immer wieder, dass deutsche Epen in Madrid wahrscheinlich nicht ganz oben auf dem Lehrplan stehen, habe ich Recht?«
»Ja«, erwiderte sie, »allerdings sind sie mir nicht gänzlich fremd. Ich habe in Madrid studiert, weil mir mein Vater ein Stipendium besorgen konnte. Aber meine Eltern haben sich in Wien kennen gelernt. Dort bin ich auch aufgewachsen.«
»Und Ihr Vater hat mit Ihnen wahrscheinlich lange Spaziergänge durch die Wiesen des Wienerwalds unternommen, in der Nähe des Wasserfalls?«, sagte Doktor Syntax mit einem Funkeln in den Augen.
»Ja«, sagte sie überrascht. »Woher um alles in der Welt wissen Sie das?«
»Hmm? Ach, das stand in Ihrer Akte. Schon gut. Also zurück zum Ring und den Wagner-Festspielen. Wie steht es mit Ihren Kenntnissen des Alt-Isländischen?«
»Alt-Isländisch? Davon habe ich nicht den blassesten Schimmer.«
»Nun, das ist keine Hindernis«, verkündete der Direktor, »denn ich besitze ohnehin kein Original des Buches. Allerdings habe ich das hier«, schloss er und ließ ein dickes, in pflaumenfarbenes Papier gehülltes Paket auf den Tisch lallen. »Dieses Buch ist nicht unbedingt schuld an Herrn Gunnar-Galens Zustand, aber es könnte ihn durchaus mit verursacht haben. Möglicherweise wird es zu einem späteren Zeitpunkt nötig sein, dass Sie es lesen, um besser mit den Umständen vertraut zu sein, die zu dem besagten Vorkommnis geführt haben. Damit sollten Sie in der Lage sind, den Fall, wenn nötig, mit mir zu diskutieren.«
Marisa nahm das Paket vom Schreibtisch. »Das ist schwer. Worum handelt es sich?«
»Es ist die Übersetzung eines Buches, das die Ur-Edda genannt wird. Sie enthält unter anderem eine alternative Variante der Geschichte, die in Wagners Ring- Opern dargestellt wird.«
»Die Variante, die Galen rezitiert hat, als er die Festivalbühne stürmte?«
»Vielleicht – vielleicht aber auch nicht«, sagte der Direktor und streckte die Hand aus, um das Paket wieder an sich zu nehmen. »Das ist eine der Fragen, die ich mit ihm in dieser Woche besprechen werde, während Sie die anderen Patientengespräche führen.«
»Sie wollen, dass ich die Gespräche im Nordturm fortführe?«, sagte Marisa überrascht. »Ich hatte angenommen, Sie würden sie bei Ihrer Rückkehr wieder persönlich übernehmen.«
Doktor Syntax schüttelte den Kopf. »Unabhängig von meinen anderen Plänen hatte ich vor, Ihnen in der nächsten Zeit die Patientengespräche zu überlassen. Während Herrn Gunnar-Galens Anwesenheit hier werde ich vollauf mit ihm beschäftigt sein, und ich zähle darauf, dass Sie die kontinuierliche Therapie mit den Patienten im Nordturm fortführen. Die anderen Mitarbeiter kommen mit den restlichen Patienten ohne weitere Anleitung zurecht, und Sie sind die einzige Ärztin der Stiftung, der ich so weit vertraue, um Ihnen die Verantwortung für den Nordturm zu übertragen. Oder habe ich mich da geirrt?«
»Keineswegs«, erwiderte sie und unterdrückte mühsam ein freudiges Erröten über das unausgesprochene Kompliment. »Ich komme mit den Gesprächen gut zurecht, und ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten.«
»Gut, gut«, sagte Doktor Syntax und erhob sich, um sie zur Tür zu geleiten. »Eine tägliche schriftliche Zusammenfassung der Patientengespräche sollte für die Zeit, in der ich mit Hagen arbeite, zu meiner Information vollauf genügen. Lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein soll.«
»Ich werde zurechtkommen, Doktor Syntax. Vielen Dank.«
»Ich danke Ihnen,
Weitere Kostenlose Bücher