Die verschollene Symphonie
im Jahr 1874 stattfinden.«
»Was hat Ludwig zu dem Ganzen gesagt?«, fragte Marisa.
»Ludwig hielt das Bayreuth-Vorhaben von Anfang an für absurd und unrealistisch. Wagner war sich dessen bewusst und hatte deshalb beschlossen, das Projekt ohne die Unterstützung eines Gönners voranzutreiben. Diesem Vorsatz konnte er jedoch nicht lange treu bleiben«, erwiderte Galen.
»Er hat also seine künstlerischen Prinzipien dem Geld geopfert?«, fragte Maddox.
»Nein«, sagte Galen. »Er fügte sich praktischen Überlegung gen, damit seine Kunst zu ihrer Vollendung gelangen konnte. Er bat Ludwig offiziell um Hilfe, und Ende Januar 1874 bewilligte Ludwig ihm eine Hilfszahlung in Höhe von 100.000 Talern.«
»Und rettete damit sein Vorhaben«, sagte Marisa.
»Zweifellos. Ludwigs Unterstützung war für die Weiterführung des Baus ausschlaggebend. In einem Brief an Lorenz von Düfflipp schrieb Wagner zuversichtlich, dass das Theater im Sommer 1875 fertig gestellt werden würde. Auch diese Schätzung war jedoch zu optimistisch, und es sollte bis zum Jahr 1876 dauern, bis das Opernhaus die ersten Festspiel-Gäste empfangen konnte.«
»Da hat er seinen Anhängern aber ziemlich viel Geduld abverlangt«, bemerkte Marisa.
»Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht denen, die wussten, worum es ihm ging«, erwiderte Galen. »Die Bayreuther Festspiele waren damals in Deutschland ein einzigartiges kulturelles Ereignis. Sogar Kaiser Wilhelm I. beehrte sie mit seiner Anwesenheit. Wagners enthusiastischste Anhänger waren ebenfalls dort, unter ihnen Friedrich Nietzsche. Selbst Tschaikowskij kam aus Russland angereist.«
»Beeindruckend.«
»Und wie! Die Festspiele von 1876 waren das Ergebnis langjähriger Arbeit, und Wagner war sich darüber im Klaren, dass die Vorbereitungen für das nächste Festival ebenfalls sehr anstrengend werden würden. Dennoch war er davon überzeugt, es bereits im nächsten Jahr wiederholen zu können, wenn eine dauerhafte Unterstützung durch den König oder zumindest durch private Gesellschaften gewährleistet war. Auch Liszt glaubte, dass er eine solche Zuwendung erhalten würde – beide sollten sich irren. Niemand wollte dem Festival auf Dauer seine Unterstützung zusichern, und so sollten sich die Wagner-Anhänger erst wieder im Jahre 1882 im Festspielhaus versammeln können. Bis zu seinem überraschenden Tod 1883 hat Wagner die Festspiele nur zweimal veranstalten können.«
Maddox schnaubte. »Das lag aber weniger an der mangelnden Unterstützung, sondern an den Verzögerungen, die durch die Vervollständigung der überarbeiteten Tetralogie mit dem zusammengetragenen neuen Quellenmaterial verursacht wurden«, sagte er sachlich. »Geld war mehr als genug vorhanden, um weitere Festspiele zu veranstalten. Wagner wusste jedoch, dass es ihm niemals gelingen würde, die neue, überarbeitete Fassung der Opern durchzusetzen, wenn das Festival so weiterlief, wie es ursprünglich konzipiert war.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Manchmal wünschte ich, er hätte das verdammte Buch nie gefunden.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie es gemeinsam mit Liszt für ihn beschafft haben«, sagte Marisa.
»Wir haben ihm die Ur-Edda gebracht«, sagte Maddox. »Das war jedoch längst nicht das Einzige, worauf er zurückgreifen konnte. Uns beunruhigte die Tatsache, dass das verfügbare Material nicht ausreichte. Stellen Sie sich vor, er sei der beste Hirnchirurg der Welt gewesen und alles, was ihm für seine Operationen zur Verfügung stand, war ein Brocken Granit. Hin und wieder stieß er auf ein Stück Quartz oder Feuerstein. Doch dass er seine Kräfte nie bis an ihre Grenzen ausschöpfen konnte, brachte ihn langsam um. Liszt und ich wussten, dass wir etwas tun mussten, um Wagner aus diesem Meer der Qualen zu retten, und wir waren bereit, notfalls bis ans Ende der Welt zu reisen, um – wenn ich die Metapher fortführen darf – das beste Skalpell zu finden. Das bedeutete, dass wir die Wurzeln der Ring- Geschichte suchen mussten, die mythologischen Grundlagen der germanischen Überlieferungen. Wir mussten die Geschichten, die Wagner umsetzen wollte, in ihrer reinsten Form aufspüren. Und glücklicherweise kannte ich jemanden, der mir sagen konnte, wo wir diese Geschichten finden würden: mein Freund Stiefelchen.«
»Ihr Freund aus dem Norden New Yorks?«, fragte Marisa. »Wie konnte er Ihnen bei einer Sache behilflich sein, die vor mehr als einem Jahrhundert geschehen ist?«
»Weil«, sagte Maddox und
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