Die verschollene Symphonie
Frau, die wir sahen, und die müde zu uns herüberlächelte und uns kurz zuwinkte, hatte ich schon lange für tot gehalten. In diesem Augenblick wurde uns die Verbindung klar.«
»Welche Verbindung?«, fragte Marisa. »Wer war diese Frau?«
»Die wichtigste Verbindung von allen«, sagte Maddox. »Denn die Frau, die ich dort sah, war Johanna Pätz. Z, die Einsiedlerin von Meru, die Norne, die Sibylle, war Richard Wagners Mutter.«
»Wagner selbst rühmte sich oft damit, dass die Norne, die Pandora der alten germanischen Überlieferung, an seiner Wiege ›den nie zufriedenen Geist, der stets das Neue sucht‹ hinterlassen hätte. Diese verhängnisvolle Gabe sollte sein lebenslanges Ringen mit seinen künstlerischen Begabungen beherrschen. Ich glaube, dass er bereits als Kind geahnt hat, was seine Mutter wirklich war.«
»Und Sie haben es nicht geahnt?«, fragte Galen. »Nach allem, was mir über sie bekannt ist, war Johanna Pätz keine gewöhnliche Frau.«
»Sie haben Recht«, sagte Maddox. »Sie hatte die bemerkenswerte Fähigkeit, vollkommen im Augenblick zu leben – als Mutter, Ehefrau oder Geliebte. Ich ahnte jedoch nicht, wie außergewöhnlich sie wirklich war, bis ich sie auf dem Deck des ablegenden Schiffes sah. Es gab keine Möglichkeit, das Schiff einzuholen, bevor es die offene See erreicht hatte, und so kehrten wir zu Madam Blavatsky zurück.«
»Ich wette, Sie hatten sich viel zu erzählen«, sagte Marisa.
»Nicht so viel, wie Sie glauben. Ich hätte mich gern noch mit ihr unterhalten, aber Liszt und ich konnten nicht länger bleiben. Wir waren ungebetene Gäste, und sie hatte uns nur empfangen, weil sie schon im Voraus gewusst hatte, weswegen wir gekommen waren.«
»Sie überließ Ihnen also das Buch, nach dem Sie gesucht hatten – die Ur-Edda?«, fragte Galen.
»Ja. Sie gab es uns freiwillig, ohne eine Bezahlung oder das Versprechen, es wieder zurückzubringen. Sie behauptete, dass es von selbst zu ihr zurückkehren würde, wenn es seinen Zweck erfüllt hatte. Dann verabschiedete sie sich von uns und wir kehrten in den Westen zurück.«
Marisa rückte näher an Maddox heran. »Hat die Ur-Edda Wagner weitergeholfen?«
»Sie wäre ihm sicher nützlich gewesen«, erwiderte er, »wenn seine schöpferischen Energien nicht so sehr vom politischen Klima der Zeit abgelenkt gewesen wären. Natürlich waren es die dramatischen historischen Ereignisse, die den Anstoß zur Komposition des Rings gaben. Die Gelegenheit zur schöpferischen Arbeit ergab sich für Wagner zwangsläufig, als er ins Exil ging…«
»Ins Exil?«
Galen nickte. »Wagner hatte ziemlich fortschrittliche politische Ansichten. 1848 beteiligte er sich an der gescheiterten Revolution in Deutschland und war infolgedessen gezwungen, sein Heimatland zu verlassen und nach Paris und später nach Zürich zu gehen. Während seines Aufenthalts dort überarbeitete er die Entwürfe, die er bereits für die Tetralogie musikalischer Dramen gemacht hatte, die er später den Ring des Nibelungen nennen sollte. Als Ausgangspunkt hatte er dafür ursprünglich ein mittelhochdeutsches episches Gedicht aus dem 12. Jahrhundert gewählt, eben das Nibelungenlied. Die Texte des Opernzyklus entstanden jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Wagner glaubte, dass bestimmte erzählerische Passagen in der Götterdämmerung – dem letzten Werk der Tetralogie – noch weiter ausgeschmückt und dramatisiert werden mussten, um die Geschichte insgesamt verständlicher zu machen, und schrieb deshalb mit Siegfried einen dritten Teil. Weil er jedoch immer noch nicht zufrieden war, verfasste er Die Walküre und als weiteres Vorspiel Das Rheingold. Im November 1853 begann Wagner, an der Musik für Das Rheingold zu arbeiten, und vollendete sie im Mai des darauffolgenden Jahres. Ende Dezember 1856 war die Musik für Die Walküre fertig.
1861 wurde Wagners Verbannung aufgehoben, der Komponist kehrte nach Preußen zurück und ließ sich in Biebrich nieder. Dort nahm er die Arbeit an der Musik für den Siegfried auf und stellte sie im Februar 1871 fertig. Zur gleichen Zeit begann er mit der Komposition der Götterdämmerung. Am fünfundzwanzigsten August 1870, neun Jahre nach der Trennung von seiner ersten Frau, heiratete der Komponist Cosima von Bülow, Liszts Tochter und die geschiedene Frau des Dirigenten Hans von Bülow. 1882 begann sich Wagners Gesundheit zu verschlechtern. Er glaubte, dass ihm ein Klimawechsel gut tun würde, und mietete sich deshalb im
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