Die Verschollenen
hoffte, den Mond oder ein paar Sterne zu sehen, doch da war nur Dunkelheit. Rauch schwebte durch das Loch. Sie schaute an der Rauchsäule entlang nach unten. In der Mitte der Haupthöhle befand sich eine große, steinerne Grube. Darin brannte ein Feuer, das regelmäßig mit Brennholz von einem Stapel in der
Nähe versorgt wurde. Um das Feuer herum saßen ihre Entführer.
Becka zählte zweiunddreißig Kreaturen, ging aber davon aus, dass es noch mehr von ihnen gab. Ihr Gestank war durchdringend. Die ganze Kammer war voll von ihnen, Jungen und Alten, Männchen und Weibchen, Schwachen und Starken, und sie waren offenbar alle gerade mit einem Festmahl beschäftigt. Die Weibchen saßen von den Männchen getrennt. Eine der Kreaturen schien einen besonderen Ehrenplatz einzunehmen. Sie saß am dichtesten an dem knackenden Feuer, und die Flammen ließen das silberne Fell, das ihren schlanken Körper bedeckte, glänzen. Ihre Brust war mit blassen, ausgefransten Narben überzogen. Der Rest der Stammesmitglieder verhielt sich gegenüber diesem Ältesten unterwürfig, wie an ihren Gesten und dem Abstand, den sie hielten, zu erkennen war. Sie brachten ihm sein Essen und sahen ihm nicht in die Augen.
Becka bemerkte, dass viele der jüngeren Kreaturen an offensichtlichen Geburtsfehlern litten - verkrüppelten Gliedmaßen, deformierten Augen oder Ohren, grotesk angeschwollenen Schnauzen oder missgebildeten Händen und Köpfen. Für einen kurzen Moment empfand Becka Mitleid mit ihnen. Das Gefühl verflüchtigte sich allerdings einen Augenblick später, als sie erkannte, was die Kreaturen fraßen. Erst weigerte sich Beckas Verstand zu akzeptieren, was sie dort sah. Aber dann erkannte sie die
zerfetzten Lumpen, die einmal Kleidungsstücke gewesen waren - und die zerfetzten Fleischbrocken, die einmal Gesichter gewesen waren. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu schreien.
Die Überreste von Ryan, Matthew, Sal, Richard, Jeff, Raul und Stuart bildeten einen wirren, blutigen Haufen aus Gliedmaßen, Torsos und Innereien. Becka musste mit ansehen, wie die Kreaturen immer wieder in den Haufen griffen, möglichst fleischige Stücke abrissen und sich damit wieder zwischen ihre Kameraden hockten und anfingen zu essen. Das Feuer diente offenbar nur als Wärme-und Lichtquelle, denn sie verzehrten das Fleisch roh. Becka würgte. Hände und Füße wurden abgenagt wie Hühnerbeine, und wenn kein Fleisch mehr daran war, wurden sie einfach weggeworfen. Knochen wurden aufgebrochen und das Mark von gierigen, schlürfenden Mündern herausgesaugt. Gehirne wurden wie Kaviar aus den Schädeln geschaufelt und tropften aus haarigen Fäusten. Ein blasses, deformiertes Männchen leckte sich die klebrigen Reste von seinen überlangen Fingern. Augäpfel wurden in die Luft geworfen und wie Popcorn mit dem Mund aufgefangen, sehr zur Freude der anderen. Herzen wurden gegessen wie Äpfel. Glitschige Lebern und Nieren wurden begeistert verschlungen. Zwei kleine Kreaturen zankten sich um einen Eingeweidestrang, als handelte es sich um eine Würstchenkette. Der Streit endete erst, als das blutige, schleimige Objekt
der Begierde in der Mitte durchriss, so dass beide auf dem Höhlenboden landeten und mit Blut bespritzt wurden. Die Mutter der Monster lachte johlend und vergrub dann ihre Schnauze wieder in einem zerfetzten Fleischbrocken, der von einem Oberkörper stammte.
Als sich ihre Zähne immer tiefer in ihre Unterlippe gruben, lief Becka das Blut in den Mund, aber sie nahm es kaum wahr. Die Geräusche des Gelages wurden immer lauter, und schließlich konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Der Schrei formte sich tief in ihrer Brust und schob sich langsam immer höher, während sie zurückwich.
»Schhh«, flüsterte plötzlich eine Stimme in der Dunkelheit hinter ihr. »Schön leise sein. Nicht mal laut atmen. Mama ist bald wieder da.«
»Sh-Shonette? Oh mein Gott! Bist du das? Bist du okay?«
Noch während sie die Frage aussprach, wurde Becka klar, dass ihre Mitkandidatin ganz und gar nicht okay war. Das erkannte sie an ihrer Stimme. Aus den Schatten drang ein verwirrtes Seufzen.
»Iss dein Frühstück. Sie haben uns fürs Erste vergessen. Erinnere … erinnere sie nicht daran, dass wir hier sind.«
»Shonette? Ich bin’s, Becka. Bist du’s wirklich?«
Kurzes Schweigen. »Ja, ich bin’s. Kriech wieder hierher zurück, Becka, aber ganz langsam. Erreg bloß nicht ihre Aufmerksamkeit.«
Becka schob sich in der Hocke langsam nach hinten, hielt den
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