Die Verschwörung
Oder auch nicht. Aus irgendeinem Grund reichte schon der Anblick der stampfenden Lokomotive, um ihre Magensäure zum Kochen zu bringen. Aber sie hatte keine Wahl.
»Das ist der Mayak-Chemie-Zug«, sagte Artemis.
Überrascht drehte Holly sich um. Artemis sah noch blasser aus als sonst. »Der was?«
»Umweltschützer auf der ganzen Welt nennen ihn den Grünen Zug - eine ziemliche Ironie. Er transportiert verbrauchte Uranium- und Plutoniumbrennstäbe für die Wiederaufbereitung zum Chemiekonzern Mayak. Ein Fahrer, eingeschlossen in der Lok. Keine Wachen. Voll beladen ist das Ding heißer als ein Atom-U-Boot.«
»Und woher weißt du das alles?«
Artemis zuckte die Achseln. »Ich halte mich gerne auf dem Laufenden. Schließlich ist die Verstrahlung eines der größten Probleme der Welt.«
Jetzt spürte Holly es. Uraniumstrahlen, die sich durch das Schutzgel auf ihrer Haut fraßen. Dieser Zug war das pure Gift. Aber es war ihre einzige Chance, den Commander lebend aus der Schneehölle zu befreien. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, grummelte sie.
Der Zug kam näher, rollte mit etwa zehn Stundenkilometern auf sie zu. Kein Problem für Holly allein, aber mit zwei angeschlagenen Männern und einem nahezu nutzlosen Menschenjungen würde es ein ganz schöner Akt werden.
Holly sah kurz hinauf zu den Kobolden. Sie schwebten nach wie vor in dreihundert Metern Höhe. Improvisation war nicht gerade eine Stärke der Kobolde. Der Zug war nicht eingeplant, und so würden sie mindestens eine Minute brauchen, um sich eine neue Strategie zu überlegen. Außerdem durfte das große Loch in ihrem gefallenen Kumpan sie noch eine ganze Weile beschäftigen.
Holly spürte die Strahlung, die von den Waggons ausging, immer deutlicher; eine Strahlung, die sich durch jede winzige Lücke im Schutzgel bohrte und ihr in den Augen brannte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Magie verbraucht sein würde. Und dann waren ihre Stunden gezählt.
Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Wichtigste war, den Commander lebend aus der Höhle herauszuholen. Wenn die B'wa Kell dreist genug war, einen offenen Angriff gegen die ZUP zu starten, war unten in Erdland mit Sicherheit etwas Oberfaules im Gange. Und was immer es war, sie würden Julius Root brauchen, um die Gegenattacke zu leiten.
»Okay, Menschenjunge«, sagte sie zu Artemis. »Wir haben nur einen Versuch. Halt dich irgendwo fest, egal woran.«
Artemis konnte ein leichtes Zittern nicht verbergen.
»Keine Angst, Fowl. Du schaffst das schon.«
Artemis wurde wütend. »Es ist kalt, Elfe. Wir Menschen zittern nun mal, wenn uns kalt ist.«
»Na, dann ist Bewegung ja gerade richtig«, meinte Holly und begann zu laufen. Das Seil an ihrem Gürtel rollte sich hinter ihr aus wie ein Harpunendraht. Obwohl es nur so dünn war wie eine Angelschnur, konnte es ohne weiteres das Gewicht von zwei zappelnden Elefanten aushalten. Artemis rannte hinter ihr her, so schnell es seine in Slippern steckenden Füße erlaubten.
Dicht neben den Gleisen liefen sie durch den knirschenden Schnee. Hinter ihnen näherte sich stampfend der Zug, eine Welle kalter Luft vor sich herschiebend.
Artemis hatte Mühe, mit Holly mitzuhalten. Das war nicht sein Ding, rennen und schwitzen. Überhaupt, Kampfeinsatz! Er war doch kein Soldat, verdammt nochmal! Er war ein Denker. Ein Genie. Die Turbulenzen handgreiflicher Auseinandersetzungen überließ er lieber Butler und seinesgleichen. Aber diesmal war sein Diener nicht da, um ihm die körperliche Arbeit abzunehmen. Und er würde es nie wieder sein, wenn es ihnen nicht gelang, auf diesen Zug aufzuspringen.
Sein Atem kam stoßweise, in weißen Wolken, die seine Sicht verschwimmen ließen. Der Zug war jetzt neben ihnen; die Stahlräder schleuderten Eis und Funken in die Luft.
»Zweiter Waggon«, japste Holly. »Pass auf, versuch die untere Leiste zu erwischen.«
Welche Leiste? Artemis warf einen Blick über die Schulter. Der zweite Waggon kam näher. Na, super. Wie zum Teufel sollte er darauf stehen können, auf dieser schmalen Leiste unterhalb der Stahltür? Und woran sollte er sich festhalten?
Holly sprang mit einem Satz auf und drückte sich flach an die Wand des Waggons. Bei ihr sah es völlig mühelos aus. Ein kleiner Hüpfer, und sie war in Sicherheit vor den gnadenlos mahlenden Rädern. »Komm schon, Fowl«, rief sie. »Spring!«
Artemis gab sich alle Mühe. Aber er blieb mit der Schuhspitze an einer Schwelle hängen und taumelte rudernd vorwärts,
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