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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Jedenfalls hoffte sie, man werde sie für ein solches Straßenkind halten.
    Es erwies sich, dass auch Remus durchaus fantasiebegabt war, denn als ihn der Wachhabende nach seinem Anliegen fragte, tischte er ihm eine Räuberpistole auf, die er nach Gracies Überzeugung speziell für diesen Anlass erfunden hatte.
    »Ich suche nach meinem verschwundenen Vetter«, sagte er mit dem Ausdruck tiefer Besorgnis, wobei er sich weit über die Theke vorbeugte. »Ich habe gehört, dass am siebten Februar jemand, auf den seine Beschreibung passt, in der Nähe der Westminster-Brücke fast ertrunken wäre. Seine Kutsche war in einen Unfall verwickelt, der ein kleines Mädchen um ein Haar das Leben gekostet hätte, was er sich so sehr zu Herzen genommen hat, dass er sich umbringen wollte. Wissen Sie etwas darüber?«
    »Natürlich«, gab der Beamte zur Antwort. »Hat ja alles in der Zeitung gestanden. Ich würd allerdings nich sagen, dass dieser Nickley Selbstmord begehen wollte.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Wer Mantel und Stiefel auszieht, bevor er ins Wasser springt, meint das wohl nich so ernst.« Seine Stimme war voller Verachtung. »Er is ’n Stück weit geschwommen und dann im Ufergebüsch hängen geblieben. Man hat ’n ins Westminster-Krankenhaus gebracht, aber gefehlt hat dem nix.«
    Dann stellte Remus eine weitere Frage, und zwar so beiläufig, als sei sie ihm gerade erst eingefallen und als komme es auf die Antwort nicht an.
    »Wie hieß eigentlich die Kleine? Ist sie auch heil davongekommen?«
    »Ja.« Das ausdruckslose Gesicht des Mannes war voll Mitleid. »Das arme Kind. Viel hat ja nich gefehlt, aber zum Glück is ihr nix passiert. Es hat ihr nur’nen gewaltigen Schrecken eingejagt, vor allem weil es nich das erste Mal war, dass ’ne Kutsche sie beinah überfahren hätt.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Sie hat gesagt, es wär dieselbe gewesen. Ich nehm aber an, dass sie das nich richtig auseinander halten kann.«
    Gracie sah, wie Remus erstarrte. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. »Das zweite Mal? Von derselben Kutsche?« Unwillkürlich stieß er das hervor, als sei ihm die Antwort darauf äußerst wichtig.
    Der Wachtmeister lachte. »Natürlich nich! Was weiß ’n kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren schon von Kutschen?«
    Remus beugte sich weiter vor und fragte: »Und wie heißt sie?«
    »Alice«, sagte der Beamte. »Glaub ich jedenfalls.«
    »Und weiter?«
    Der Wachtmeister sah ihn aufmerksam an. »Was soll das eigentlich? Wissen Se was, was Se uns mitteilen müssten?«
    »Aber nein!«, sagte Remus auffällig schnell. »Es handelt sich um eine reine Familienangelegenheit. Mein Vetter ist so eine Art schwarzes Schaf, wissen Sie? Wir wollen, dass die Sache möglichst nicht an die große Glocke gehängt wird. Es würde uns aber helfen, wenn wir den Namen des kleinen Mädchens wüssten.«
    Der Beamte sah Remus mit einem Anflug von Misstrauen an. »Ihr Vetter, haben Sie gesagt?«
    Jetzt gab es für Remus kein Zurück mehr. »Ja. Er bereitet der Familie nichts als Ärger. Ganz besonders hat er es auf ein kleines Mädchen namens Alice Crook abgesehen. Ich hoffe nur, dass sie das nicht war.« Als Gracie diesen Namen hörte, überlief sie ein Schauer. Remus war nach wie vor auf derselben Fährte, was auch immer er damit bezwecken wollte.
    Das Gesicht des Beamten entspannte sich ein wenig. »Leider war sie das doch.«
    Remus erstarrte und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Gracie begriff, dass er nicht Kummer verbarg, sondern Jubel. Nach einer Weile fasste er sich wieder und sah den Beamten erneut an.
    »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte er knapp, machte auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus. Gracie musste ihm erneut nachlaufen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sofern sie dem Beamten überhaupt aufgefallen war, nahm dieser wahrscheinlich an, dass sie zu dem sonderbaren Mann gehörte.
    Remus entfernte sich jetzt von der Themse und sah immer wieder nach links und rechts, als suche er etwas.
    Gracie blieb so weit wie möglich zurück und hielt sich hinter
dem Rücken anderer Menschen verborgen – Arbeiter, Touristen, Boten, Zeitungsjungen und Straßenhändler. Mit einem Mal änderte Remus die Richtung, ging auf ein Postamt zu und trat ein. Sie folgte ihm.
    Sie sah, wie er einen Bleistift nahm und rasch mit zitternden Händen etwas notierte. Er faltete das Blatt zusammen, kaufte eine Marke und steckte den Brief in den Kasten. Dann machte er

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