Die Verschwoerung von Whitechapel
unterdrückte Erregung, die Macht, die ihn trieb. Was auch immer er suchen mochte, es schien ihm äußerst wichtig zu sein.
»Vor vier Jahren?«, wiederholte sie.
»Ja!« Es sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, damit sie endlich sprach. Er unterließ es aber im letzten Augenblick.
Sie gab sich Mühe, genau das zu sagen, was er hören wollte.
»Ja. Hier war ’ne große herrschaftliche Kutsche. Genaues kann ich nich sagen, weil’s dunkel war, aber um die Zeit war
das wohl.« Betont unschuldig fragte sie: »War das jemand, den Sie kennen?«
Er sah sie wie gebannt an. »Ich weiß nicht. Möglich. Haben Sie jemanden gesehen?«, stieß er atemlos hervor.
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, weil sie nicht ahnte, worauf er hinauswollte. Das musste sie herauszubekommen versuchen. Sie entschied sich zu einer nichts sagenden Mitteilung, aus der er herauslesen mochte, was er wollte.
»Es war eine große, schwarze Kutsche, aber unauffällig«, sagte sie. »’türlich mit ’nem Kutscher auf ’m Bock.«
»Ein gut aussehender Mann mit Bart?« Die Erregung in seiner Stimme war unüberhörbar.
Ihr Herz tat einen Hüpfer. Im nächsten Augenblick würde sie die Wahrheit erfahren. Jetzt musste sie besonders vorsichtig sein.
»Ob er gut ausgesehen hat, weiß ich nich.« Sie bemühte sich, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »Aber’n Bart hatte er wohl.«
»Haben Sie jemanden im Inneren gesehen?« Er gab sich Mühe, ruhig zu wirken, doch seine leuchtenden Augen verrieten ihn. »Hat die Kutsche angehalten? Haben die Leute mit jemandem geredet?«
Sie überlegte in fliegender Eile. Es war wohl nicht wichtig, ob der Mann, um den es ihm zu gehen schien, angehalten hatte oder nicht. Es konnte aus einem beliebigen Grund geschehen sein, und sei es nur, weil er sich nach dem Weg erkundigen musste.
»Ja.« Sie machte eine Handbewegung. »Da vorne. Er hat ’ne Bekannte von mir angesprochen. Die hat gesagt, er hätte nach jemand gefragt.«
»Nach jemandem gefragt?« Seine Stimme klang fast schrill.
Sie konnte die Spannung in ihm beinahe mit Händen greifen.
»War die Person, nach der er sich erkundigt hat, eine Frau?«
Das also wollte er hören. »Ja«, sagte sie leise. »’ne Frau.«
»Wer? Wissen Sie das? Hat sie es gesagt?«
Sie nannte den einzigen weiblichen Vornamen, dem sie in diesem Zusammenhang begegnet war. »Irgend’ne Annie.«
»Annie.« Er keuchte schwer und schluckte, als bekomme er
keine Luft. »Sind Sie da ganz sicher? Und der Nachname? Wissen Sie den auch? Überlegen Sie gut.«
Sollte sie es riskieren, »Annie Crook« zu sagen? Nein. Es war klüger, den Bogen nicht zu überspannen. »Nee. Fing glaub ich mit C an. Sicher bin ich mir da aber nicht.«
Er schwieg, schien wie gelähmt. Sie hörte in einiger Entfernung jemanden lachen, irgendwo bellte ein Hund.
Mit flüsternder Stimme fragte er: »Annie Chapman?«
Sie war enttäuscht. Mit einem Mal war der Sinn des Ganzen dahin. Sie fror innerlich.
»Weiß nich«, sagte sie tonlos, unfähig, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Warum? Wer war das? ’n Kerl, der sich ’ne billige Nacht machen wollte?«
»Ist nicht weiter wichtig«, sagte er rasch, bemüht zu verbergen, wie wichtig ihm war, was er erfahren hatte. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Vielen Dank, ganz herzlichen Dank.« Er suchte in seiner Tasche und hielt ihr ein Drei-Pence-Stück hin.
Das gab ihr die Möglichkeit, Tellman zumindest einen Teil des Geldes zurückzuzahlen, das sie ausgegeben hatte – wenn sie es nicht noch selbst brauchte, je nachdem, wohin sich Remus als Nächstes wandte.
Er machte kehrt und ging dorthin zurück, woher er gekommen war. Immer wieder musste Gracie rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Am unteren Ende der Whitechapel High Street wandte er sich nach Westen und stieg bei der ersten Gelegenheit in einen Pferde-Omnibus. Statt aber zur Stadtmitte zu fahren, wie sie vermutet hatte, stieg er wieder in Holborn um, fuhr südwärts bis zur Themse und dann über die Uferstraße bis zur Wache der Wasserpolizei.
Gracie folgte ihm ins Gebäude, als hätte sie dort selbst etwas zu erledigen. Mit gesenktem Kopf wartete sie hinter ihm. Vorsichtshalber hatte sie ihre Haarnadeln herausgenommen und sich ein wenig Schmutz ins Gesicht gerieben. Damit dürfte sie der jungen Frau, die Remus in der Hanbury Street angehalten hatte, nicht mehr besonders ähnlich sehen, sondern eher den Straßenkindern, die am Themseufer nach Essensresten suchten.
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