Die Verschwoerung von Whitechapel
Verabredung hatte? Gracie musste an den wütenden Ausdruck denken, mit dem er den Mann im Hyde Park verlassen hatte. Aber nicht nur Wut war auf seinen Zügen erkennbar gewesen, sondern auch Erregung und Angst. Die Sache, um die es ging, musste von ungeheurer Bedeutung sein, jedenfalls schien er das anzunehmen.
Völlig überraschend bog er in die schmale Duke Street ein. Dort war es dunkler. Tief senkten sich die Giebelbretter der Häuser. Ein Geruch nach Fäulnis und Abwässern hing in der Luft. Sie merkte, dass sie zitterte. Unmittelbar vor ihnen ragte der riesige Schatten der Kirche des Heiligen Botolph auf. Sie befanden sich am Rand von Whitechapel.
Remus war zielbewusst ausgeschritten, als wisse er genau, wohin er wollte. Jetzt zögerte er und sah nach links. Einen kurzen Augenblick sah sie sein bleiches Gesicht im düsteren Licht. Was suchte er? Etwa die Bettler und Obdachlosen, die sich in die Hauseingänge drückten und nach einem Schlafplatz
suchten, Straßendirnen, die auf Gelegenheitskundschaft warteten?
Unwillkürlich musste sie an die großen schwarzen Kutschen denken, nach denen er sich erkundigt hatte. Das Rattern von Rädern auf dem Pflaster wurde immer lauter, schwarze Pferde näherten sich aus der Dunkelheit, der riesige Umriss eines hohen, eckigen Kutschkastens wurde sichtbar, ein Schlag öffnete sich, und ein Mann fragte … wonach? Nach einer Frau, einer bestimmten Frau. Warum? Welcher Herr in einer Kutsche würde im Dunkel der Nacht hierher kommen, wenn er im Westen der Stadt sauberere Frauen finden konnte, die ihm mehr zu bieten hatten, wo es statt eines Hauseingangs ein Zimmer mit einem Bett darin gab?
Remus ging über die Straße zu einem Gässchen neben der Kirche.
Dort war es pechschwarz, und sie stolperte, während sie ihm folgte. Wohin zum Teufel wollte er nur? Sie wusste, dass er sich noch vor ihr befand, weil sie seine Schritte auf dem Pflaster hörte. Dann sah sie seinen Umriss, als ihn ein Lichtstrahl erfasste. Vermutlich stand um die Straßenecke eine Laterne.
Sie trat auf einen kleinen Platz. Dort stand er regungslos und sah sich um. Flüchtig wurde sein Gesicht vom gelben Licht der Laterne beschienen. Seine Augen waren geweitet, er hatte die Lippen zu einem schrecklichen Lächeln geöffnet, das wie eine Mischung aus Entsetzen und Jubel aussah. Er zitterte am ganzen Leibe. Im Licht der Gaslaterne sah sie, wie er die zu Fäusten geballten Hände ein wenig hob. Die Knöchel schimmerten weiß.
Sie hob den Blick zu dem Schild an der Ziegelmauer oberhalb der Lichtquelle. Mitre Square.
Mit einem Mal überlief sie ein eiskalter Schauer, als hätte der Atem der Hölle sie berührt. Fast wäre ihr Herz stehen geblieben. Jetzt wusste sie, was er hier wollte – in Whitechapel, in der Buck’s Row, in der Hanbury Street und nun am Mitre Square. Sie wusste, wen er in der großen schwarzen Kutsche vermutete, die nicht hierher gehörte. Ihr fielen die Namen ein: Annie Chapman, als Dunkle Annie bekannt, Long Liz, Kate, Polly, Black Mary. Remus war hinter dem als Jack the Ripper
bekannten Frauenaufschlitzer her! Er lebte noch, und Remus glaubte zu wissen, wo er ihn finden konnte. Das also war die Geschichte, die er in den Zeitungen veröffentlichen und mit der er berühmt werden wollte.
Sie wandte sich ab und rannte so eilig durch das finstere Gässchen davon, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte. Ihre Knie schienen unter ihr nachzugeben, sie keuchte, ihre Lunge schmerzte, als schnitte die Luft mit Messern hinein, aber um keinen Preis wollte sie auch nur einen Augenblick länger an diesem Ort des Entsetzens bleiben. Sie hatte Schreckensvisionen, stellte sich die blinde, lähmende Angst der Frauen vor, das Blut, die Qualen, den Augenblick, da sie die Augen des Mannes sahen und wussten, wer er war. Das war das Schlimmste von allem: ins Herz und in die Seele eines Menschen zu blicken, der das getan hatte … und es wieder tun würde.
Sie stieß mit jemandem zusammen und schrie laut auf, schlug mit ihren Fäusten um sich, traf auf nachgiebiges Fleisch. Dann ertönte ein Knurren und ein Fluch. Sie riss sich los, stürmte in die Duke Street und jagte der Aldgate Road entgegen. Sie wusste nicht, auf wen sie da eingedroschen hatte, und es war ihr gleichgültig. Sie ahnte nicht, ob Remus ihr auf den Fersen war oder nicht, ob er wusste, dass sie ihm gefolgt war. Sie hatte nur den Wunsch, einen Zug oder einen Pferde-Omnibus zu erreichen, Whitechapel und seine Geister und Dämonen hinter sich
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