Die Verschwoerung von Whitechapel
gefragt, zumindest ist das im Fall Annie Chapman belegt. Warum? Warum haben Sie sich in St. Pancras nach dem Tod von William Crook und in Northampton nach dem verrückten Stephen erkundigt? Was hat der mit Jack zu tun?«
»Soweit ich weiß, – « Remus’ schmale Hände umkrallten den Bierkrug so fest, dass dieser leicht zitterte und kleine Wellen über seine Oberfläche liefen, » – war er Lehrer des Herzogs von Clarence und mit Walter Sickert befreundet. Er hat die beiden miteinander bekannt gemacht.«
»Den Herzog von Clarence und Walter Sickert?«, fragte Tellman gedehnt.
Mit halb erstickter Stimme stieß Remus hervor: »Trottel! Den Herzog von Clarence und Annie Crook.«
Der Raum drehte sich um Tellman, als befände er sich in einem tosenden Sturm auf dem Meer. Der Sohn des Thronfolgers und eine Katholikin aus dem East End! Andererseits hatte sein Vater, der Kronprinz, überall Mätressen und gab sich nicht einmal besonders viel Mühe, das zu vertuschen.
Remus sah das Nichtverstehen in Tellmans Gesicht.
»Soweit mir bekannt ist, war Clarence – man rief ihn Eddy – ein wenig unbeholfen, wohl wegen seiner Schwerhörigkeit. Außerdem vermuteten seine Freunde, dass er sowohl Männern als auch Frauen zuneigte.«
»Und Stephen …«, begann Tellman.
»Stimmt. Sein Lehrer Stephen hat ihm eine ganze Reihe von Möglichkeiten nahe gebracht, wie er sich mit Annie amüsieren konnte. Ähnlich seiner Mutter fiel es ihm wegen der Schwerhörigkeit nicht leicht, einer Unterhaltung in Gesellschaft zu folgen.« Zum ersten Mal schwang Mitgefühl in Remus’ Stimme. Auf seinen Zügen zeigte sich eine gewisse Trauer. »Aber die
Sache hatte nicht das gewünschte Ergebnis. Die beiden haben sich ineinander verliebt … es war richtige Liebe. Kurz gesagt, läuft das Ganze darauf hinaus …« Er sah Tellman mit einem sonderbaren Gemisch von Mitleid und Hochgefühl an. Seine Hände zitterten mehr als vorher. » Es ist anzunehmen, dass die beiden verheiratet waren.«
Tellman ruckte so heftig an seinem Krug, dass das Bier überschwappte und auf den Tisch floss. »Was?«
Remus nickte, am ganzen Leibe zitternd. Seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Deswegen hat Netley, der Kutscher des armen Eddy, der ihn immer zu Annie in die Cleveland Street gefahren hat, zweimal versucht, das Kind umzubringen. Armes, kleines Geschöpf …«
»Kind?« Jetzt war alles klar. »Alice Crook …« Tellman schluckte schwer. »Alice Crook ist die Tochter des Herzogs von Clarence?«
»Wahrscheinlich … und noch dazu ehelich! Dabei war Annie Katholikin!« Mit kaum noch hörbarer Stimme setzte Remus hinzu: »Sagt Ihnen der Begriff ›Act of Settlement‹ etwas?«
»Was?«
»Das Thronfolgegesetz«, erklärte Remus. Tellman musste sich weit über den Tisch beugen, um seine Worte hören zu können. »Es stammt aus dem Jahre 1701, ist aber nach wie vor in Kraft. Es schließt jeden Angehörigen der Königsfamilie von der Thronfolge aus, der einen Katholiken heiratet! In der Freiheitsurkunde von 1689 steht es ebenso.«
Allmählich begann Tellman das Ausmaß des Ganzen zu begreifen. Ein Schauer überlief ihn. Die Sache gefährdete den Thron, die Stabilität der Regierung und das ganze Land.
»Und deshalb hat man die beiden mit Gewalt auseinander gebracht?« Es war die einzig mögliche Schlussfolgerung. »Man hat Annie entführt und ins Irrenhaus gesteckt … aber was war mit Eddy? Ist er gestorben oder hat man … doch wohl nicht …?« Er brachte die Worte nicht einmal heraus. Mit einem Mal ging ihm auf, wie schrecklich das Dasein eines Prinzen sein konnte – verängstigt, von allen Menschen isoliert, einsam und allein einer Verschwörung ausgeliefert, die ihre Arme in alle Richtungen ausstreckte.
Nach wie vor lag der Ausdruck von Mitleid auf Remus’ Zügen.
»Das weiß nur Gott allein.« Er schüttelte den Kopf. »Der Ärmste konnte nur die Hälfte von dem hören, was um ihn herum gesagt wurde, und vielleicht war er auch eher ein bisschen einfältig. Jedenfalls scheint er an Annie und dem Kind richtig gehangen zu haben. Es ist denkbar, dass er sich die Trennung nicht ohne weiteres hat gefallen lassen. Er war fast taub, allein, verwirrt …« Wieder hielt er inne. Auf seinem Gesicht lag Mitgefühl für einen Mann, den er nie im Leben gesehen hatte, dessen Qualen er sich aber nur allzu lebhaft ausmalen konnte.
Tellman sah auf die verschossenen Anschläge und das Gekritzel an der Wand der Gaststätte, zutiefst dankbar, dass er dort
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