Die Verschwoerung von Whitechapel
erfahren, warum man ihren Mann getötet hat. Es muss Menschen geben, denen diese Dinge am Herzen liegen. Bestimmt weiß Tante Vespasia Rat.«
Emily dachte einen Augenblick nach. »Hast du dir überlegt, was geschehen wird, wenn es stimmt und die Sache durch uns an die Öffentlichkeit gerät?«, fragte sie eindringlich. »Das würde den Sturz der Regierung nach sich ziehen – «
»Wenn die alle unter einer Decke stecken, um das zu vertuschen, hat sie es verdient, abgesetzt zu werden, allerdings durch ein Misstrauensvotum im Unterhaus, nicht durch eine Revolution.«
»Es geht nicht nur um das, was die Leute verdient haben«, sagte Emily sehr ernst, »sondern auch darum, wer dann an ihre Stelle tritt. Sicher, ich will gar nicht bestreiten, dass sich diese Männer so manches haben zuschulden kommen lassen. Aber bevor man sie über die Klinge springen lässt, sollte man doch überlegen, ob die, die man dann bekommt, nicht womöglich noch schlimmer sind.«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Was könnte schlimmer sein als eine Geheimgesellschaft in höchsten Regierungskreisen, die aus Eigeninteresse solche Morde deckt? Das bedeutet doch, dass ihnen Gesetz und Recht nichts gelten. Wen trifft es beim nächsten Mal, wenn ihnen
jemand aus welchem Grund auch immer im Wege steht? Wird er dann auch einfach abgeschlachtet, und man deckt die Täter?«
»Das ist doch extrem – «
»Natürlich ist es das«, stimmte ihr Charlotte zu. »Die Leute sind verrückt. Die haben jeden Realitätssinn verloren. Frag jeden, der etwas über die Morde von Whitechapel weiß – ich meine, jemanden, der wirklich Bescheid weiß.«
Emily war bleich. Die Erinnerung an das, was vier Jahre zuvor geschehen war, stand ihr in die Augen geschrieben. »Du hast Recht«, flüsterte sie.
Charlotte beugte sich zu ihr. »Wenn auch wir unser Wissen für uns behalten, machen wir uns zu Mittätern. Dazu aber bin ich nicht bereit.«
»Was wirst du also tun?«
»Zu Juno Fetters gehen und ihr sagen, was ich weiß.«
Emily sah sie verängstigt an. »Bist du sicher?«
Charlotte zögerte. »Ich glaube schon. Bestimmt ist es ihr lieber, zu wissen, dass man ihren Mann umgebracht hat, weil er über diese Sache Bescheid wusste, als weil er eine republikanische Revolution plante – denn das denkt sie im Augenblick.«
Emily riss die Augen weit auf. »Eine republikanische Revolution? Wegen dieser Sache?« Sie sog scharf die Luft ein. »Damit hätte man möglicherweise sogar Erfolg gehabt …«
Charlotte erinnerte sich an das Foto von Martin Fetters, das ihr Juno gezeigt hatte. Sie dachte an den freimütigen Ausdruck, den Wagemut in seinen klugen Augen. Es war das Gesicht eines Mannes, der seinem Ziel um jeden Preis treu blieb. Sie hatte ihn auf den ersten Blick gut leiden können, so wie ihr auch seine Artikel über die Orte und Menschen der 48er Revolutionen gefallen hatten. Wie er sie beschrieb, handelte es sich dabei um einen edlen Kampf. Er hatte die Dinge so dargestellt, als müsse jeder anständige Mensch, der ein Empfinden für Gerechtigkeit hatte, dafür eintreten. Überrascht merkte sie, wie bitter ihr die Vorstellung erschien, er könnte in England an der Vorbereitung von Gewalttaten mitgewirkt haben, auch wenn es dabei um die Verwirklichung
eines Traumes von Menschlichkeit ging. Es war fast so, als hätte ein Freund sie verraten.
Emilys Stimme drang in ihre Gedanken.
»Und Adinett war also gegen die Revolution? Warum hat er Fetters’ Pläne dann nicht einfach öffentlich bekannt gemacht?«, fragte sie. »Man hätte dem Mann dann das Handwerk gelegt.« Es klang vernünftig.
»Schon«, gab ihr Charlotte Recht, »aber er war über die Morde von Whitechapel im Bilde und hätte alles aufgedeckt, sobald er die Beweise in der Hand gehabt hätte.«
»Und das will jetzt dieser Remus tun.«
Charlotte erschauerte trotz der Wärme in ihrer gemütlichen Küche. »Das nehme ich an. Er wird ja wohl nicht so dumm sein, diese Leute erpressen zu wollen.« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
Emily sagte sehr leise: »Ich habe das Gefühl, dass es ziemlich dumm sein könnte, der Sache nachzuspüren.«
Charlotte stand auf. »Ich möchte es wissen … Ich denke, uns bleibt nichts anderes übrig.« Sie holte tief Luft. »Würdest du dich um die Kinder kümmern, während ich zu Juno Fetters gehe?«
»Natürlich. Wir gehen in den Park«, sagte Emily. Als Charlotte an ihrem Stuhl vorüberkam, fasste Emily ihren Arm so fest, dass es schmerzte. »Sei
Weitere Kostenlose Bücher