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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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er die Todesstrafe gegen John Adinett aussprach.
    Pitt saß erstarrt da. Es war zugleich ein Sieg und eine Niederlage. Sein Ansehen war vor der Öffentlichkeit in Fetzen gerissen worden, ganz gleich, was die Geschworenen geglaubt hatten oder nicht. Aber es war ein gerechtes Urteil. Er zweifelte nicht an Adinetts Schuld, obwohl er sich nicht denken konnte, warum der Mann die Tat begangen hatte.
    Und obwohl er bei so vielen Verbrechen die Untersuchung geleitet hatte und so viele entsetzliche und tragische Wahrheiten
ans Tageslicht befördert hatte, war er nie bereit gewesen, jemanden dem Henker auszuliefern. Strafe war angebracht; er wusste, dass sie wichtig war: für den Schuldigen, für das Opfer und für die Gesellschaft. Sie war der Beginn eines Heilungsprozesses. Aber er hatte es nie für richtig gehalten, dass man das Leben eines Menschen nahm, keines Menschen, auch nicht das John Adinetts.
    Er verließ das Gerichtsgebäude, und während er die Newgate Street entlangging, kam er sich nicht wie ein Sieger vor.

Kapitel 2
    L ady Vespasia Cumming-Gould«, kündigte der Lakai an. Dazu brauchte er nicht einmal einen Blick auf die Einladung zu werfen, denn sie war allen Dienstboten sämtlicher hochherrschaftlichen Häuser Londons bekannt. Immerhin war sie einst die schönste Frau ihrer Generation gewesen und die unerschrockenste dazu. Vielleicht war sie es nach wie vor. Nach Ansicht mancher Menschen konnte ihr niemand das Wasser reichen.
    Sie trat durch die Doppeltür ein und blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen, die sich anmutig hinab zum Ballsaal schwang. Obwohl er bereits zu drei Viertel gefüllt war, unterbrach ihr Auftreten das unablässige Summen der Unterhaltungen für eine Weile. Noch jetzt vermochte sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken.
    Sie hatte sich nie der Mode unterworfen, war ihr doch nur allzu bewusst, dass alles, was ihr stand, weit besser war als der jeweils letzte Schrei. Die in dieser Saison üblichen Wespentaillen mit den angedeuteten Tournüren waren schön und gut, solange man darauf achtete, dass die Ärmel nicht zu üppig wurden. Zu ihrem Kleid aus austernfarbenem Satin, dessen Ärmel und dessen Einsatz am Ausschnitt aus elfenbeinfarbener Brüsseler Spitze bestanden, trug sie wie immer ein Perlenkollier und Perlenohrringe. Ihr silbriges Haar war schon für sich genommen ein Diadem. Nachdem sie einen Augenblick lang den Blick ihrer hellen grauen Augen über den Saal hatte gleiten lassen,
begann sie, die Anwesenden zu grüßen und deren Grüße entgegenzunehmen.
    Natürlich kannte sie fast alle, die über vierzig waren, wie sie auch ihnen bekannt war – und sei es nur vom Hörensagen. Unter ihnen befanden sich Freunde, aber auch Feinde. Wer bestimmte Grundsätze vertrat oder auch nur zu seinen Freunden hielt, erregte unvermeidlich Missgunst oder Boshaftigkeit anderer. Sie war immer von ganzem Herzen und mit all ihrer beträchtlichen Klugheit für ihre Überzeugungen eingetreten, allerdings nicht immer unbedingt mit besonderem diplomatischem Geschick.
    Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts hatten sich die Dinge, für die sie sich einsetzte, geändert. Überhaupt hatte sich alles in ihrem Lebensumfeld verändert. Wie hätte beispielsweise die junge, hingebungsvolle und eher fantasielose Königin Viktoria vorhersehen können, dass eine gewisse Lillie Langtry, Schauspielerin von Beruf, dadurch skandalöses Aufsehen erregen würde, dass sie zur Mätresse des Kronprinzen avancierte? Oder was hätte wohl der stets würdevoll auftretende Prinzgemahl Albert über den vor Witz sprühenden exzentrischen Oscar Wilde gesagt, der so voll Leidenschaft schrieb und dessen Worte bei allem Glanz so seicht sein konnten?
    Vieles hatte sich zwischen damals und heute verändert, schreckliche Kriege hatten das Leben ungezählter Männer gefordert und der Zusammenprall von Weltanschauungen wahrscheinlich noch mehr. Erdteile waren erschlossen worden, Reformträume waren aufgeblüht und vergangen. Darwin hatte die Grundlagen des Lebens infrage gestellt.
    Vespasia neigte den Kopf leicht vor einer älteren Herzogin, blieb aber nicht stehen, um mit ihr zu sprechen. Sie hatten einander schon vor langer Zeit alles gesagt, was es zu sagen gab, und keiner von beiden schien es die Mühe wert, es noch einmal zu wiederholen. Vespasia fragte sich, warum jene um alles in der Welt bei diesem diplomatischen Empfang anwesend war. Es schien sich um eine erlesene Gesellschaft zu handeln, und sie musste einen

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