Die Verschwoerung von Whitechapel
sie eine sorgfältig abgewogene Antwort gab.
»Ich bin nicht ganz sicher. Anfangs fand ich ihn wohl recht sympathisch, denn er war durchaus interessant. Außer Martin hatte ich niemanden je mit solcher Begeisterung über Reisen in ferne Länder reden hören.« Ihr Gesicht leuchtete bei der Erinnerung auf. »In seinen Worten schwang Leidenschaft mit, und er konnte die großen Weiten Kanadas auf eine Weise beschreiben, dass dem Zuhörer ihre Schrecken wie auch ihre Schönheit lebhaft vor Augen standen, selbst mitten in London. Das war bewundernswert. Ich merkte, dass ich ihm gern zuhörte, auch wenn ich ihm dabei nicht unbedingt in die Augen sehen wollte.«
Diese plastische Art, sich auszudrücken, erschien Charlotte sonderbar. Da sie den Prozess nicht als Zuschauerin im Gerichtssaal verfolgt hatte, konnte sie sich lediglich mithilfe von Abbildungen in der Zeitung eine Vorstellung von Adinett machen, der auf dem Foto streng und beherrscht wirkte. Warum sollte er nicht imstande sein, seine Empfindungen so zu verbergen, dass es einem dabei unbehaglich wurde?
Was für ein Mensch er wohl war? Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie je die Wahrheit in einem Mordfall hatte ermitteln müssen, bei dem ihr die beiden Hauptbeteiligten völlig unbekannt waren. Bei früheren Gelegenheiten war es immer darum gegangen, festzustellen, welche von mehreren Personen schuldig war. Diesmal kannte sie den Schuldigen, würde ihm aber nie begegnen und nie einen Teil seiner Wirklichkeit unmittelbar miterleben, war auf die Beobachtungen Dritter angewiesen.
Sie hatte gelesen, dass Adinett zweiundfünfzig Jahre alt war, doch lieferte ihr das Foto in der Zeitung keinen Hinweis darauf, ob er groß oder klein war, von dunklem oder eher hellem Teint.
»Wie würden Sie ihn mir beschreiben, damit ich ihn in einer Menschenmenge erkennen könnte?«, fragte sie.
Mrs. Fetters dachte eine Weile nach. »Als militärisch«, sagte sie mit einer Stimme, in der Gewissheit lag. »Von ihm ging eine Art Macht aus, die den Anschein erweckte, als hätte er sie in den größten Gefahren erprobt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er vor irgendjemandem Angst hätte. Er … er … hat sich auch nie in den Vordergrund gespielt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Das gehörte zu den Dingen, die Martin am meisten an ihm bewunderte.« Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie ärgerlich wegblinzelte. »Auch ich habe ihn geachtet«, fügte sie rasch hinzu. »Er besaß eine ungewöhnliche Charakterstärke, die anziehend wirkte, mich aber zugleich auch ängstigte.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Charlotte nachdenklich. »Solche Menschen erscheinen unverletzlich, ein wenig anders als wir. Nun, jedenfalls anders als ich. Ich ertappe mich hin und wieder dabei, dass ich zu viel rede. Das geht auf mein Bedürfnis zurück, andere zu beeindrucken.«
Juno Fetters lächelte. Mit einem Mal wirkten ihre Züge warm und lebendig. »Nicht wahr? Wir glauben, dass andere unsere Schwächen sehen, weil wir selbst uns ihrer bewusst sind.«
»War er groß?« Charlotte merkte, dass sie in der Vergangenheit von ihm sprach, als wäre er bereits tot. In Wirklichkeit saß er irgendwo in einer Zelle, vermutlich in Newgate, und wartete darauf, dass die vom Gesetz vorgeschriebenen drei Sonntage vorübergingen – dann würde man ihn hängen. Die Vorstellung verursachte ihr Übelkeit. Und wenn sich nun alle geirrt hatten und er in Wahrheit schuldlos war?
Juno Fetters, die nichts von Charlottes Gedankengängen ahnte, fiel nicht auf, welche Veränderung in ihrer Besucherin vorgegangen war.
»Ja, weit größer als mein Mann«, gab sie zur Antwort. »Allerdings war Martin nicht besonders groß, höchstens drei oder vier Zentimeter größer als ich.«
Ohne jeden Grund erstaunte das Charlotte. Ihr ging auf, dass sie sich ein völlig anderes Bild von ihm gemacht hatte. Sofern ein Foto des Opfers in den Zeitungen erschienen war, hatte Charlotte es nicht gesehen.
Möglicherweise war der Witwe ihre Überraschung aufgefallen. Jedenfalls fragte sie zögernd: »Möchten Sie ihn sehen?«
»Ja … bitte.«
Juno Fetters stand auf, öffnete den Laden eines kleinen Rollschreibtisches, nahm ein Foto in einem silbernen Rahmen und hielt es ihr mit zitternder Hand hin.
Charlotte nahm es. Hatte Juno es im Schreibtisch aufbewahrt, um keine schwarze Schleife darum legen zu müssen, so als lebte er für sie nach wie vor? Sie hätte es wohl ebenso gehalten. Die unerträgliche Vorstellung,
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