Die Verschwoerung von Whitechapel
gewirkt.
»Es tut mir so Leid …« Die Worte waren ihr entfahren, bevor sie sich deren Folgen überlegen konnte.
Juno schluckte, und es dauerte eine ganz Weile, bevor sie sich wieder in der Hand hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie und schüttelte leicht den Kopf. »Er hat sich um etwas gesorgt, wollte aber nicht mit mir darüber sprechen. Wenn ich in ihn zu dringen versuchte, wurde er abweisend. Ich habe nicht die geringste Ahnung, worum es ging. Ich nahm an, es hätte mit einer der Vereinigungen von Altertumsforschern zu tun, denen er angehörte. Zwischen ihnen herrscht ein nicht besonders edler Wettstreit, müssen Sie wissen.«
Charlotte war verwirrt. All das kam ihr eher alltäglich und harmlos vor.
»Aber Adinett interessierte sich nicht für Altertümer? «, fragte sie erneut.
»In keiner Weise. Er hörte Martin zu, doch nur, weil sie gute Freunde waren. Es war ihm anzusehen, dass es ihn manchmal langweilte.« Juno sah sie mit umschatteten Augen an. »Es nützt wohl alles nichts.«
»Soweit ich sehe, nein«, gab Charlotte zu. »Aber es muss einen Grund geben! Wir wissen nur nicht, wo wir suchen sollen.« Sie stand auf. Für den Augenblick würde sie nichts weiter erfahren, und sie hatte die Zeit ihrer Gastgeberin schon zu lange in Anspruch genommen.
Auch diese erhob sich, so langsam, als sei sie vor Mattigkeit zu keiner Bewegung fähig.
Charlotte erkannte zwar die Einsamkeit der Trauer, in der diese Frau gefangen war, wusste aber nicht, wie sie helfen konnte. Da sie einander erst seit knapp zwei Stunden kannten, war es ausgeschlossen, dass sie ihr anbot, ihr noch Gesellschaft zu leisten. Außerdem wollte sie möglicherweise lieber mit ihrem Kummer allein bleiben. Vielleicht war die Notwendigkeit, einer Fremden gegenüber höflich zu sein, das Letzte, wonach ihr der Sinn stand … aber ohne weiteres war auch das Gegenteil möglich, denn das würde sie zwingen, sich zu beherrschen, und sie
für eine Weile beschäftigen, ohne dass sie von ihren Erinnerungen gequält wurde. Der gesellschaftliche Brauch, der vorsah, dass sich frisch verwitwete Frauen von der Öffentlichkeit fern hielten, mochte gut gemeint sein und ihre Tugend bewahren, doch verstärkte er ihren Kummer auf eine Weise, wie es kaum ein anderes Mittel vermocht hätte. Möglicherweise war er hauptsächlich für die anderen Leute eingeführt worden, blieb ihnen doch auf diese Weise die Peinlichkeit erspart, mit der Witwe reden zu müssen, an den Tod gemahnt und daran erinnert zu werden, dass er letztlich zu jedem von uns kommt.
»Dürfte ich wohl gelegentlich wiederkommen?«, fragte Charlotte. Ihr war klar, dass sie mit einer abschlägigen Antwort rechnen musste, aber zumindest lag die Entscheidung jetzt bei der anderen.
Der Ausdruck von Hoffnung trat auf Junos Züge. »Bitte … ich …« Sie holte tief Luft. »Ich möchte wissen, was wirklich geschehen ist. Und … ich möchte nicht immer nur hier herumsitzen müssen!«
Charlotte lächelte ihr zu. »Danke. Sollte mir eine auch nur im Entferntesten aussichtsreiche Fährte einfallen, werde ich mich bei Ihnen melden.« Dann wandte sie sich der Tür zu, im Bewusstsein, bisher so gut wie nichts getan zu haben, was Pitt helfen konnte.
Gracie hatte ihre eigenen Pläne. Kaum war Charlotte aus dem Haus, als sie alles stehen und liegen ließ, um ebenfalls zu gehen. Dazu legte sie nicht nur ihr bestes Umschlagtuch um und setzte den besseren ihrer beiden Hüte auf, sondern sie nahm sich auch so viel Geld, wie sie für den Pferde-Omnibus brauchte.
Nach gut zwanzig Minuten hatte sie die Polizeiwache in der Bow Street erreicht, deren Leiter bis zum Vortag Pitt gewesen war. Sie ging die Stufen hinauf, als zöge sie in den Krieg, und so fühlte sie sich auch, während sie hineinging. Als Kind hatte sie einen möglichst großen Bogen um Polizeiwachen und die Männer darin gemacht, jetzt aber suchte sie mit voller Absicht eine auf. Allerdings wäre sie für das, was ihr am Herzen lag, auch in die Hölle gegangen, wenn es keine andere Möglichkeit gegeben hätte, ihr Ziel zu erreichen. So groß war ihre
Wut, dass sie es mit jedem beliebigen Gegner aufgenommen hätte.
Sie trat an den Tisch des wachhabenden Beamten, der sie kaum zur Kenntnis nahm.
»Ja, Miss? Kann ich was für Sie tun?« Während er das sagte, kaute er weiter auf seinem Bleistift herum.
»Ja, bitte«, sagte sie höflich. »Ich würde gern mit Wachtmeister Tellman sprechen. Es is sehr dringend und hat mit ’nem Fall zu
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