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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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die Agentin spielend, hatte ich ihm einen Zettel geschrieben, auf dem ich ihm meinen Besuch in Coolis vom Vortag erklärte und wie wichtig es sei, dass ich mich mit Senora Mercedes unterhielt. Morrell hatte beim Lesen des Zettels die Stirn gerunzelt und war schließlich - ob wegen meiner Beharrlichkeit, meiner logischen Fähigkeiten oder meiner schönen Beine, weiß ich nicht - zu dem Schluss gekommen, mich zu Nicola Aguinaldos Mutter zu bringen. Wir waren mit der Hochbahn gefahren, weil wir so am schnellsten bemerkten, ob wir verfolgt wurden, zuerst in den Loop und dann wieder hinaus und irgendwann nach Pilsen auf der südwestlichen Seite der Stadt.
    Als ich Abuelita Mercedes sah, wurde mir klar, dass ich beim Gedanken an sie unbewusst das Klischee von der »Oma« im Kopf gehabt hatte - ich hatte eine alte Frau mit Kopftuch und runden roten Wangen erwartet. Aber natürlich war eine Frau, deren Tochter erst siebenundzwanzig war, noch längst nicht so alt, nur ein paar Jahre älter als ich selbst. Sie war klein und stämmig, hatte schwarze Haare, die sich um Ohren und Stirn lockten, und eine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen.
    Ihre Muttersprache war Tagalog, aber sie konnte sich auch mit Spanisch durchschlagen, das Morrell fließend sprach - obwohl er mir erklärte, dass seine Version die mittelamerikanische war und sich hin und wieder von der der Filipinos unterschied. Ihr Englisch beschränkte sich auf ein paar Höflichkeitsfloskeln, die sie verwendete, nachdem Morrell uns folgendermaßen vorgestellt hatte: Senora Mercedes, le presento a la Senora Victoria. Er versicherte ihr, dass ich ihr und Nicola wohlgesonnen war und mich als Anwältin für die Armen einsetzte.
    Nicolas Tochter Sherree begrüßte Morrell mit einem erfreuten »Tio!«, plapperte dann aber auf englisch weiter. Nach einer Tasse starkem schwarzem Kaffee mit kleinen Donuts wandten wir uns dem Tod von Nicola zu.
    Morrell übersetzte Senora Mercedes' Spanisch, und Sherree half widerwillig mit dem einen oder anderen Satz auf Tagalog aus, damit Nicolas Mutter es schaffte, die Geschichte von Nicola zu erzählen. Sie erklärte mir, sie wisse nur sehr wenig von dem, was im Gefängnis mit ihrer Tochter passiert sei. Sie könne sich kein Telefon leisten und habe sich deshalb nur selten mit ihrer Tochter unterhalten können: Sie habe immer eine Nachbarin, für gewöhnlich Senora Attar, gebeten, ihr Telefon benutzen zu dürfen, damit Nicola an einem vorher ausgemachten Tag anrufen konnte. Aber alles sei davon abhängig gewesen, ob Nicola ihren Brief, in dem sie das Datum nannte, rechtzeitig bekommen hatte, und ob sie an jenem Tag überhaupt telefonieren durfte.
    Da alle Briefe in Tagalog automatisch zurückgeschickt wurden, hatten sie und Nicola auf spanisch schreiben müssen, was sie beide nicht so gut beherrschten. Doch in Coolis gab es trotz der zahlreichen Hispano-Insassen lediglich zwei spanischsprechende Aufseher, was nicht selten dazu führte, dass auch Briefe in spanischer Sprache oft nicht an den Empfänger weitergegeben wurden, weil der Absender möglicherweise versuchte, nicht erlaubte Informationen ins Gefängnis zu schmuggeln.
    Sherree war mittlerweile in der dritten Klasse und konnte auf englisch schreiben - sie war sehr gut in Englisch -, aber Nicola hatte die Sprache nicht gut genug beherrscht, um ihr Leben im Gefängnis in den Briefen genauer schildern zu können.
    Als das Baby gestorben war, ja, das war schrecklich gewesen. Senora Mercedes hatte nicht nach Coolis fahren können, weil sie keine Green Card hatte und nicht wusste, welche Papiere man dort vorzeigen musste. Was wäre gewesen, wenn sie sie bei dem Besuch verhaftet hätten? Außerdem kostete alles Geld, der Bus nach Coolis, es war einfach zuviel. Also hatte sie einen Brief in spanischer Sprache geschickt, und Sherree hatte ebenfalls einen geschrieben - der Priester hatte ihr geholfen, ihn auf englisch zu verfassen; das war gewesen, bevor Senor Morrell sich mit ihnen angefreundet hatte -, aber sie hatte nie wieder etwas von ihrer Tochter gehört; sie wusste nicht einmal, ob Nicola erfahren hatte, dass ihr Baby gestorben war, bevor sie selbst starb. Nun, und jetzt war die arme Sherree ganz allein. Sie hatte keine Mutter mehr und keine Schwester, und der Vater auf den Philippinen war auch nicht mehr am Leben.
    Sherree schien dieses Klagelied nicht zum erstenmal zu hören. Sie spielte stirnrunzelnd mit ihren Puppen und wandte Senora Mercedes den Rücken zu, als diese die Einzelheiten

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