Die verschwundene Frau
Lemour aus dem Raum und kam wieder zu mir herein.
»Schlafen Sie ein bisschen«, sagte er. »Morgen sieht alles schon viel besser aus.«
»Was wird besser aussehen?« murmelte ich mit geschwollenen Lippen. »Meine Beschwerde gegen Lemour wegen polizeilicher Gewaltanwendung vielleicht?«
Der Sergeant brachte mich in eine Zelle, in der bereits ein halbes Dutzend Frauen wartete. Eine von ihnen musterte mich mit halb schockiertem, halb bewunderndem Blick. »Was hast du Lemour bloß angetan, Mädel? Ich hab' ihn schon öfter durchdrehen sehen, aber so wie heute noch nie.«
Ich versuchte, ihr zu antworten, aber meine Lippen waren zu geschwollen, als dass ich etwas hatte sagen können. Die Frau schlug gegen das Gitter und verlangte Wasser. Irgendwann kam eine Beamtin mit einem Pappbecher voll lauwarmem Leitungswasser. Ich schluckte, so gut ich konnte, und rieb mir vorsichtig die wunden Schultern und den Kopf. Ich versuchte, mich bei der Frau zu bedanken, brachte aber kein verständliches Wort heraus.
In jener Nacht tat ich kein Auge zu. Eine Frau rauchte eine Zigarette nach der anderen; die Frau, die neben mir auf dem Boden saß, fluchte, als ihre Asche auf sie herabregnete; und eine dritte jammerte über das Schicksal ihres Babys. Kakerlaken leisteten uns Gesellschaft. Ihnen gehörte der Raum; wir waren hier nur geduldete Gäste.
Am Morgen kam eine Beamtin in die Zelle und scheuchte uns alle auf. Das Licht in dem Raum war grell, doch wenn ich die Augen schloss, drehte sich alles. Ich spürte, wie sich mir der Magen hob, und stützte mich an der Wand ab. Ich wollte mich nicht übergeben, nicht in der Öffentlichkeit, konnte aber nicht anders.
»Mein Gott, müsst ihr Flittchen eigentlich immer in die Zelle kotzen? Komm, wasch dich, zieh das hier an, und dann los.«
Ich wurde an eine andere Frau gefesselt, die sich ebenfalls übergeben hatte. Wir wurden in eine winzige Toilette gebracht, wo wir uns säuberten, so gut es ging. Ich hielt den Kopf unters laufende Wasser, bis die Beamtin mich wegzog.
»Warshki, los, beweg deinen Hintern.«
»Ich brauche einen Arzt«, keuchte ich heiser. »Ich habe eine Gehirnerschütterung.«
»Du brauchst Kleidung. Da, zieh das an. Du fährst raus nach Coolis.«
»Nach Coolis?« Ich brachte lediglich ein Flüstern hervor. »Nicht nach Coolis. Ich bin nur festgenommen, nicht verurteilt.«
Die Polizistin zog mich noch einmal vom Waschbecken weg. »Bist du heut' nacht hingefallen oder hast du dich geprügelt, oder was? Da, zieh das Hemd an.«
Das Hemd war so leuchtend gelb, dass mir die Augen weh taten. Auf dem Rücken stand IDOC - Illinois Department of Corrections. »Dieser Lemour ist der brutalste Polizist von Chicago. Die Blessuren habe ich alle von ihm. Ich fahre nicht nach Coolis. Ich warte hier auf meinen Anwalt. Der soll einen Antrag auf Kaution stellen,«
»Hör zu, Warshki, ich hab' keine Zeit für solche Mätzchen. Ich hab' hier vier Mädels, die in den Bus müssen, du eingeschlossen, und du bist nicht in der Verfassung, um irgendetwas anderes als Jawohl, Ma'am< zu sagen. Es ist Wochenende, da werden keine Kautionsanträge bearbeitet; wenn dein Anwalt anruft, sagen wir ihm, wo du bist. In Coolis werden alle untergebracht, die keinen Platz mehr in Cook und Du Page County haben, also kommt ihr Mädels zu 'ner Busfahrt in die gute Landluft. Das ist mehr, als ich am Vierten Juli kriege, das kann ich euch sagen.«
Ich zog das Hemd an, weil ich keine andere Wahl hatte. Ich war so sicher gewesen, dass Freeman am Morgen dasein würde, um mich herauszuholen, und jetzt hatte ich einfach keine Kraft mehr, mich zu wehren. Nur vier der Frauen aus der Zelle wurden nach Coolis geschickt - wurden die anderen freigelassen? Und wenn ja, warum?
Die Beamtin fesselte mich wieder an die andere Frau und dirigierte uns hinaus auf die Straße, wo bereits ein alter weißer Bus mit der Aufschrift IDOC auf uns wartete. Dort wechselte sie ein paar freundliche Worte mit einem Aufseher, während sie uns übergab. Ich bekam die Uhr zurück und die sechs Dollar, die ich in meiner Jeans gehabt hatte, aber meine Schlüssel wurden als potentielle Waffe einbehalten und dem Wachmann zusammen mit meinen Unterlagen in einem versiegelten Umschlag gereicht.
Das Rogers-Park-Revier war der letzte Halt für den Bus, der bereits mehrere Frauen von anderen Revieren im westlichen und nördlichen Teil der Stadt eingesammelt hatte. Insgesamt waren wir nun neunundzwanzig. Der Wachmann drückte mich auf einen Sitz, legte
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