Die verschwundene Frau
wusste ich, worauf sie hinauswollte. Als ich wieder in meiner Zelle war, zupfte ich vorsichtig etwa zwei Zentimeter der Naht am Bund der Shorts auf. Die gefalteten Geldscheine darin hatten fast die gleiche Farbe wie der Stoff. Ich holte einen Zwanziger heraus, bevor ich den Saum wieder zunähte - das hier war der sicherste Ort zur Aufbewahrung von Geld.
Mit Hilfe meines Kontos war ich nun in der Lage, mir im Laden eine Zahnbürste und Seife sowie ein Putzmittel zu kaufen, mit dem ich das Waschbecken und die Toilette in meiner Zelle reinigen könnte. Doch abgesehen von dem Vergnügen, mir nun überteuertes, schlechtes Shampoo leisten zu können, war mein erster Besuch im Gefängnisladen eine ziemliche Enttäuschung. Die anderen Frauen hatten so voller Begeisterung über ihre wöchentliche dreißigminütige Einkaufszeit gesprochen, als handele es sich dabei um einen Ausflug zum Water Tower Place. Wahrscheinlich hatte das damit zu tun, dass sie ein bisschen Abwechslung brachte. Außerdem war sie unser einziger Kontakt zur Außenwelt, die wir in Form von Zeitschriften wie Cosmopolitan oder Essence dargeboten bekamen. Auch Soap Opera Digest war sehr beliebt.
Außer Zeitschriften und Toilettenartikeln konnte man im Laden konservierte Lebensmittel, Zigaretten und Dinge kaufen, die die Gefangenen von Illinois gefertigt hatten. Viele männliche Insassen schienen gern zu sticken. Wir konnten Taschentücher, Platzsets, Kopftücher, ja sogar Blusen mit komplizierten Blumen- und Vogelmustern aus Joliet und Gefängnissen weiter südlich erwerben.
Es gab auch Mad-Virgin-T-Shirts und Jacken - schließlich waren die meisten Gefangenen jung und Lacey-Dowell-Fans. Ich warf einen neugierigen Blick auf die Etiketten, auf denen Made with Pride in the USA stand. Also hatte Nicola Aguinaldo das Shirt, das sie zum Zeitpunkt ihres Todes getragen hatte, wahrscheinlich nicht in Coolis gekauft, denn in ihrem Shirt fehlte ein solches Etikett. Im Laden konnte man auch andere Merchandising-Produkte von Global erwerben, zum Beispiel Captain Doberman oder die Space Berets, die die Frauen gern ihren Kindern schenkten.
Während meiner ersten Einkaufszeit besorgte ich mir billiges liniertes Schreibpapier - die einzige Sorte, die der Laden führte -, sowie ein paar Kugelschreiber. Als ich die Aufseherin dort fragte, ob sie auch unliniertes Papier habe, rümpfte sie nur verächtlich die Nase und erklärte mir, ich solle doch zu Marshall Field's gehen, wenn mir die Auswahl im Laden zu klein sei.
Als ich wieder in der Zelle war, sah meine Zellengenossin Solina mir teilnahmslos dabei zu, wie ich das Waschbecken sauberschrubbte. Sie war lediglich eine Woche länger als ich in Coolis, und die Tatsache, dass das Waschbecken bei ihrer Ankunft schmutzig gewesen war, bedeutete für sie, dass es nicht ihre Aufgabe war, es zu reinigen.
»Wir machen das abwechselnd«, sagte ich in bedrohlichem Tonfall. »Ich putze das Ding jetzt blitzblank, dann brauchst du dich morgen, wenn du dran bist, nicht mehr so anzustrengen.«
Sie wollte mir gerade erklären, dass sie von mir keine Befehle entgegennehmen musste, aber dann erinnerte sie sich wieder, wie ich mich gegen Angie gewehrt hatte, und meinte, sie werde es sich überlegen.
»Hier drin gibt's so wenige Dinge, die wir selbst beeinflussen können«, sagte ich. »Wenn wir in unserer Zelle für Sauberkeit sorgen, heißt das, dass wir zumindest nicht im Gestank leben müssen.«
»Ja, ja, ich hab's ja schon kapiert.« Dann marschierte sie aus unserer Zelle und den Flur hinaus zu einer Insassin, die nun schon seit elf Monaten auf ihre Verhandlung wartete und einen kleinen Fernseher ihr eigen nannte.
Ich musste lachen, als ich mir meine Freunde vorstellte, die sich im Lauf der Jahre alle schon mal über meine Schlampigkeit beklagt hatten - sie wären ganz schön erstaunt, wenn sie hörten, dass ausgerechnet ich meine Zellengenossin zur Sauberkeit anhielt.
Freeman hatte mir nicht nur Geld aufs Konto eingezahlt, damit ich mich endlich waschen konnte, sondern auch Morrell meine Nachricht überbracht. Am Donnerstag, also fast am Ende meiner ersten Woche in Coolis, wurde ich ins Besucherzimmer gerufen.
Meine Festnahme hatte Morrell ziemlich verblüfft. Er hatte aus der Tribüne am Sonntag davon erfahren - Mr. Contreras, der immer schon so wenig Kontakt mit den Männern in meinem Leben gesucht hatte wie möglich, war zu durcheinander gewesen, um ihn anzurufen. Ähnlich wie Freeman erklärte auch Morrell mir all die
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