Die verschwundene Frau
bekam ich wieder Hoffnung: Er hatte meinen Namen als »Washki« vermerkt. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass keiner der Aufseher meinen Familiennamen richtig aussprach oder buchstabierte.
Nach dem Essen gesellte sich Miss Ruby zu mir und erklärte mir, sie sei enttäuscht von mir, denn gewalttätige Auseinandersetzungen seien ihrer Meinung nach nicht die richtige Methode, Probleme zwischen den Insassinnen zu lösen. »Die Frauen haben mir erzählt, dass du die Mutter von den meisten sein könntest. Das ist einfach nicht der richtige Weg, sich um die Jüngeren zu kümmern oder ihnen ein Beispiel zu geben.«
Ich zog mein T-Shirt ein wenig herunter, um ihr die Wunde zu zeigen, die ich bei dem Kampf davongetragen hatte. »Hätte ich vielleicht noch die andere Wange hinhalten und mich zu Hackfleisch verarbeiten lassen sollen?« fragte ich. Sie schnaubte verächtlich, wollte sich aber auf keine weitere Diskussion einlassen.
Nach dem Gespräch kam ich ins Grübeln darüber, ob der Angriff in der Dusche es mir unmöglich machen würde, irgend etwas über Nicola herauszufinden. Ich bildete mir sogar ein, dass Baladine von meinem Aufenthalt in Coolis wusste und dem Aufseher von Frankreich aus den Auftrag gegeben hatte, den Angriff zu inszenieren. Lediglich die Tatsache, dass alle Wachleute mich in den folgenden Tagen völlig unverändert behandelten, ließ mich zu dem Schluss kommen, dass meine Mutmaßungen bloß ein Anflug von Paranoia gewesen waren.
Je öfter die Insassinnen von dem Kampf in der Dusche erzählten, desto ausgeschmückter wurden die Schilderungen. Plötzlich konnte ich Karate wie die Kung-Fu-Kämpfer in den Filmen. Angeblich hatte ich die beiden Frauen von der Iscariot-Gang zuerst außer Gefecht gesetzt und dann ein Messer gezückt, um sie ganz fertigzumachen, doch dann waren die Aufseher dazwischengegangen. Einige der Frauen wollten sich nun unter meinen Schutz begeben, doch andere, besonders die Gangmitglieder, reizte mein Ruf zu weiteren Kämpfen. Es gelang mir, mich aus einer ganzen Reihe von potentiellen Konflikten herauszureden, aber natürlich erhöhte es meine Anspannung nur noch, wenn ich auch während der Freizeit und im Speisesaal auf der Hut sein musste. Jedesmal wenn ich das Gefühl hatte, dass es irgendwo zu Aggressionen kommen könnte, ging ich sofort in meine Zelle zurück.
Denn Aggressionen gab es mehr als genug. Sie brachen bei den nichtigsten Anlässen auf, waren aber angesichts der Situation, in der wir uns alle befanden, verständlich: hinter Gittern mit tausend anderen Leuten, ohne jegliche Privatsphäre, immer den Launen der Aufseher ausgeliefert. Eine stahl der anderen die Bodylotion oder drängte sich in der Warteschlange vor oder sagte etwas Abfälliges über einen Verwandten der anderen, und schon wurden selbstgebastelte Waffen gezückt und Fäuste erhoben.
Kämpfe gab es auch wegen der Kleidung. Im Gefängnis bekam man nur alle fünf Jahre Ersatzkleidung, so dass ein zerrissenes Hemd oder ein verlorener Knopf ziemlich viel ausmachten. Frauen wurden zu Paaren und stritten sich wegen ihrer Beziehungen. Abgesehen von den Iscariots gab es noch eine Reihe anderer Gangs, die um Territorien kämpften und zum Beispiel den Drogenhandel zu kontrollieren versuchten.
Nach der Sache in der Dusche war meine Zellengenossin in meiner Gegenwart nervöser denn je. Zumindest sorgte die Angst dafür, dass sie ihren Zigarettenkonsum einschränkte und alle paar Tage halbherzig das Waschbecken saubermachte, doch irgendwann erfuhr ich, dass sie um eine Verlegung nachgesucht hatte, weil sie fürchtete, dass ich mich in der Nacht auf sie stürzen könnte, aber sie änderte ihre Meinung ziemlich schnell. Als ich am zweiten Donnerstag meines Aufenthalts in Coolis von meinem Basketball-Training in die Zelle zurückkehrte, fand ich sie weinend auf ihrem Bett vor.
»Die Sozialarbeiterin hat was mit meinen Kindern vor«, schluchzte sie, als ich sie fragte, was denn los sei. »Die will sie zu einer Pflegemutter geben, weil ich nicht erziehungstauglich bin. Selbst wenn ich hier rauskomme, kann ich sie nicht behalten. Aber ich liebe meine Kinder. Niemand kann behaupten, dass ich sie je ohne Socken oder Schuhe in die Schule geschickt habe. Und die Sozialarbeiterin, hat die mir irgendwann mal dabei zugeschaut, wie ich meinen Kindern das Essen gekocht habe? Die kriegen jeden Abend 'ne warme Mahlzeit.«
»Hast du denn keine Mutter oder Schwester, die sich um sie kümmern könnte?«
»Denen geht's
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