Die verschwundene Frau
Wenn du wirklich rein willst: Lieutenant Dockery kümmert sich um die Arbeitspläne, aber die hat noch nie jemand bestochen - sie ist streng, aber gerecht. Erik Wenzel, das ist der Mann, der die Näherei leitet, ist da ganz anders. Der ist kein Aufseher, sondern irgend so ein Manager, den sie eigens eingestellt haben, genau wie bei mir in der Reservierungsabteilung, damit er sein organisatorisches Wissen einbringt. Gib mir einen oder zwei Tage Zeit, dann versuche ich, was rauszukriegen.«
Sie tippte mir mit ihren manikürten Fingern auf den Arm. »Du weißt immer noch nicht, wie man sich hier drin verhalten muss, Cream. Vielleicht bist du ja die härteste Frau bei dir in der Gegend, aber hier provozierst du die Aufseher nur damit. Die wollen dich fertigmachen. In Coolis gibt's keine Geheimnisse. Auch nicht vor den Aufsehern. Irgendein Mädel erzählt denen schon was, wenn sie dafür was kriegt, 'nen besseren Job oder ein ordentliches Make-up zum Beispiel. Ist dir schon aufgefallen, dass die meisten Mädchen hier schwarz sind, aber das Make-up im Laden für Weiße? Das kannst du tragen, aber unsereins nicht. Was mich dran erinnert: Wenn du karmesinroten Nagellack und Lippenstift für mich auftreiben könntest, würde ich mich schneller um die Sache kümmern.
Noch eins möchte ich dir sagen, Cream: Troy Polsen ist wirklich ein Ekel, aber versuch nicht, ihm ans Bein zu pinkeln. Das lohnt sich einfach nicht. Denn der sorgt dafür, dass du in Einzelhaft landest, und aus der kommst du bis zu deiner Verhandlung nicht mehr raus. Das würde bedeuten, dass du in Gefängniskleidung vor Gericht musst, und du kannst dir vorstellen, was das für einen Eindruck macht. Pass auf, was du tust, Cream.«
Polsen brüllte Jorjette und mir zu, dass wir unseren Dienst in der Küche beginnen sollten. »Ihr seid hier nicht in den Ferien; bewegt eure lahmen Ärsche.«
»Er hat wirklich vorzügliche Manieren«, murmelte ich. »Die und die vorzügliche Küche hier sind einfach unwiderstehlich. Danke für die Warnung und das Angebot zu helfen, Miss Ruby. Ich möchte ja nicht indiskret sein, aber... «
»...aber dich interessiert, warum ich dir helfe? Du brauchst nicht alles über mein Leben zu wissen.« Sie lächelte. »Eins kann ich dir allerdings verraten: Ich bin ziemlich neugierig. Meine Mama hat immer gesagt, dass die Neugierde mich noch mal umbringen wird, doch ich würde selber gern erfahren, was in der Näherei los ist. Ich muss noch acht Jahre hierbleiben. Ich hasse es, wenn es Dinge in diesem Gefängnis gibt, über die ich nicht Bescheid weiß.«
Polsen kam zu mir und zerrte mich hoch. »Mach schon, Prinzesschen, sie haben im Palast schon nach dir gefragt.«
Während er mich den Flur entlangschob, überlegte ich, ob ich vielleicht selbst Opfer der Neugierde werden würde.
Nähkreis
»Mannaggia!« fluchte ich. »Puttana macchina!«
Meine Finger waren wieder einmal auf dem Stoff ausgeglitten, so dass die Armlöcher Falten warfen. Während ich den Faden herauszog, rollte ich die Schultern, um die Verspannung darin loszuwerden. Keine der Frauen um mich herum hob den Blick oder hörte auf zu arbeiten. Sie waren alle an die Nähmaschinen gekettet. Ihre Finger bewegten sich so schnell, dass ich Arme, Stoff und Nadel nur noch verschwommen wahrnahm.
»Hey, du, Victoria!« Plötzlich stand Erik Wenzel vor mir. »Ich dachte, du weißt, wie man mit der Maschine umgeht. Sabes usar esta mäquina?«
Ich sagte auf italienisch, wie unerträglich ich Wenzel fand, und fügte auf spanisch hinzu: »Si, si, se usarla.«
»Dann arbeite auch so, als ob du fabricar kannst.« Er zog mir das T-Shirt aus den Fingern, zerriss es und gab mir eine Ohrfeige. »Das kann man nicht mehr brauchen. La estropeaste! Das wird dir vom Geld abgezogen. No te pago por esto!«
Ich hatte fast meine ganzen vierhundert Dollar einsetzen müssen, um in die Näherei zu kommen; doch das einzige, was ich bis jetzt herausgefunden hatte, war, dass in einer Gefängniswerkstatt der Vorarbeiter praktisch alles machen kann, was er will. Miss Ruby war es gelungen, das Geld auf Rohde im Untersuchungsgefängnisflügel, seinen Kollegen im Gefängnistrakt und einen von Erik Wenzels Untergebenen zu verteilen, der die Arbeitspläne für die Näherei zusammenstellte. Sie hatte dem Mann gesagt, ich sei körperlich nicht belastbar, eine arme Einwanderin weit weg von zu Hause, und die schwere Arbeit in der Küche würde mich irgendwann umbringen. Dafür hatte ich ihr einen Revlon-Lippenstift
Weitere Kostenlose Bücher