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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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und eine Puderdose besorgt, und die waren alles andere als leicht aufzutreiben.
    Hoffentlich, so dachte ich nun, musste ich mir meinen Lebensunterhalt nie mit Nähen verdienen. Ich hatte gemeint, es wäre ein Klacks, die Maschinen zu bedienen, und die reinste Erholung nach der schweren Arbeit in der Küche, aber nach vier Tagen waren meine Schultern und mein Nacken völlig verspannt, meine Finger zerstochen und voller blauer Flecke, weil ich sie immer wieder unter die Nadel brachte, und ich hatte drei Dollar vierundzwanzig Cents verdient, die allerdings erst am Ende der Woche auf mein Gefängniskonto eingezahlt würden.
    Wir wurden pro fertigem Stück bezahlt: neun Cents für T-Shirts, die am leichtesten zusammenzunähen waren, fünfzehn Cents für Shorts, und dreiunddreißig für schwere Jeansjacken. Manche von den Frauen schafften neun oder zehn Jacken in der Stunde. Eine Frau neben mir hatte nach einer Stunde zweiunddreißig T-Shirts fertig.
    Als ich anfing, hatte man eine Frau abgestellt, die mir zeigte, wie man T-Shirts zusammennähte. Sie machte das in rasender Geschwindigkeit, weil sie keine Lust hatte, ihren Ausstoß einer Anfängerin zuliebe zu reduzieren. Ich hatte ihre Bewegungen so aufmerksam verfolgt, wie ich konnte. Am Ende des zweiten Tages war ich schon in der Lage gewesen, achtzehn Stück pro Stunde zu produzieren, aber von denen wurden nur ungefähr zehn den Qualitätsmaßstäben gerecht; die verdorbenen wurden mir von meinem Lohn abgezogen. Und wenn Wenzel sich über eine Frau ärgerte wie über mich, machte er schon mal ein T-Shirt absichtlich kaputt und zog die Kosten dann vom Geld ab, das sie bereits verdient hatte. Im Gefängnis gibt es keinen Betriebsrat und keine Gewerkschaft, an die man sich in solchen Fällen wenden kann. Wenn der Vorarbeiter einen nicht leiden kann, einem ins Gesicht spuckt, einen schlägt oder die Sachen, die man produziert hat, vernichtet, kann man nicht viel dagegen tun.
    Und ironischerweise nähten wir am Schluss kleine Etiketten mit der Aufschrift Made with Pride in the USA - Mit Stolz hergestellt in USA - in die T-Shirts. Mir wurde klar, dass die Shirts, die im Laden verkauft wurden, aus einer Gefängniswerkstatt stammten, obwohl diejenigen, die wir nähten, alle weiß und unbedruckt waren. Vielleicht wurden sie anschließend in ein anderes Gefängnis gebracht, wo man die Mad-Virgin- oder Captain-Dobermann-Motive aufbrachte.
    In einem Nebenraum bedienten Frauen schwere Scheren, mit denen sie den Stoff für die Kleidungsstücke zerschnitten, die wir zusammennähten. Ein paar Leute rannten immer zwischen den beiden Räumen hin und her, um uns die Rohmaterialien zu bringen.
    In einer Sechs-Stunden-Schicht bekamen wir zwei jeweils zehnminütige Pausen sowie eine halbe Stunde im Speisesaal, aber die meisten Frauen - nur die Raucherinnen bildeten da eine Ausnahme -zogen es vor, die Pausen durchzuarbeiten. Es war, wie Miss Ruby gesagt hatte: Die Frauen hier waren alle aus dem Ausland, hauptsächlich Latinas und dazu eine Handvoll aus Kambodscha und Vietnam.
    Auch hinsichtlich ihrer Unterbringung hatte Miss Ruby recht gehabt: Die meisten Näherinnen wohnten im selben Trakt, trafen am Morgen in einer Gruppe ein, wurden ebenfalls in der Gruppe zum Laden oder in den Speisesaal eskortiert und am Abend gemeinsam wieder weggebracht. Mich hatte man nicht in ihren Trakt verlegt, aber die Aufseher beobachteten mich nun noch genauer als zuvor. So genau, dass ich beschloss, nur noch Italienisch oder mein gebrochenes Spanisch zu sprechen, sogar in meiner Zelle.
    Die Tatsache, dass ich nun kein Englisch mehr sprach, ließ die Frauen, die wollten, dass ich Briefe für sie schrieb, zuerst schier verzweifeln und machte sie dann wütend. Aus Rache begann Solina in der Zelle Kette zu rauchen, als könnte sie mich so dazu bringen, sie auf englisch anzubrüllen. Jeden Abend schlief sie mit einer brennenden Zigarette auf dem Boden neben sich ein, und jeden Abend kletterte ich hinunter, um sie auszudrücken.
    Natürlich machte ich mir nicht allzu viele Hoffnungen, dass es mir gelingen würde, die Aufseher mit meinem Italienisch und Spanisch zum Narren zu halten, aber ich hoffte, dass sie es mir wenigstens so lange abkauften, bis ich etwas über Nicola herausgefunden hätte. Polsen würde mich am ehesten in Schwierigkeiten bringen. Wenn er Nachmittagsdienst hatte und mich von meiner Arbeitsschicht in den Freizeitraum brachte, überschüttete er mich mit Beschimpfungen. Ich behandelte ihn dann wie

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