Die verschwundene Frau
ist ebenfalls nicht gedruckt worden. Man hat mich gebeten, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen, um »wieder ein Gefühl für die richtige Perspektive« zu bekommen.
Falls Du am Leben bist und es Dir gutgeht, ruf mich bitte an. Falls Du allerdings tatsächlich in Lebensgefahr schweben solltest, V. I., wünschte ich, ich könnte Dich sehen, um Dir zu sagen, wie leid mir altes tut. Und ich bitte Dich, nicht aufzugeben. Ich glaube nicht, dass ich in Chicago weiterarbeiten könnte, wenn Du nicht mehr da wärst.
Murray
Ich steckte eine der Blumen an meine Bluse und tanzte damit im Garten des Berman-Instituts herum. Einen Augenblick lang spielte ich in meiner Euphorie mit dem Gedanken, Murray tatsächlich anzurufen, um ihn von seinen Ängsten um mich zu erlösen, aber dann entschied ich mich doch dagegen, weil ich es mir im Moment nicht leisten konnte, irgendein Risiko einzugehen, nicht einmal für einen alten Freund. Außerdem hatte sich Murray in diesem Sommer längst nicht verlässlich genug verhalten, um ihm aufgrund eines einzigen Briefes wieder zu vertrauen.
Am selben Tag, an dem ich sein Schreiben erhielt, brachte mir Morrell die Bilder, die ich in Coolis gemacht hatte. Es waren insgesamt dreiunddreißig: Ich hatte nicht genug Zeit gehabt, de n ganzen Film zu verknipsen. Auf einigen waren Momentaufnahmen aus Coolis zu sehen, zum Beispiel, wie Aufseher Polsen versuchte, Dolores die Jeans herunterzuziehen, oder die Eiterpusteln auf dem verbrannten Arm der Frau aus der Küche. Wo ich genug Zeit gehabt hatte, die Schärfe einzustellen, war die Qualität der Bilder gut genug, um auch Details zu erkennen.
Viele der Fotos, die ich in dem Raum hinter der Näherei gemacht hatte, waren unscharf, weil ich so hektisch herumgerannt war, doch auf einem konnte man ganz deutlich Laceys Gesicht auf einem T-Shirt sehen, dahinter einen Mann in der IDOC-Uniform des Gefängnisses. Dazu kamen zwei Aufnahmen von Frauen an den Maschinen für die Aufdrucke. Und am Ende war mir - ich weiß nicht, wie - sogar ein Foto von Hartigan, den Elektroschocker auf mich gerichtet, gelungen. Ich konnte mich nicht erinnern, das Bild gemacht zu haben; vielleicht hatte er den Auslöser erwischt, als er mich getreten hatte. Weil ich auf dem Boden lag, wirkte er auf der Aufnahme verzerrt; sein Kopf mit den sadistisch blitzenden Augen wirkte größer als sein Körper. In einer Ecke war die Waffe zu erkennen.
Als ich das Bild sah, brach mir kalter Schweiß aus. Erst nachdem ich eine Weile im Garten des Berman-Instituts spazierengegangen war, konnte ich mich wieder zu Morrell setzen. Meine Schwäche war mir peinlich.
»Was zeigen die Bilder, Vic? Ich meine, abgesehen vom Sadismus in dem Gefängnis?«
Ich hatte während meiner Genesung viel Zeit zum Nachdenken gehabt und erklärte das, was mir klargeworden war, nicht nur Morrell, sondern letztlich auch mir selbst: »Ein Gefängnis ist ein hervorragender Ort für eine Fabrik. Die Arbeitskraft dort ist billig und kann vor allen Dingen nicht weglaufen. Außerdem besteht keinerlei Gefahr, dass eine Gewerkschaft gegründet wird oder sich irgend jemand über die Arbeitsbedingungen beschwert. Selbst wen n die Arbeiter dort mehr Lohn bekommen als die in Südostasien, spart man immer noch Geld, weil man keinerlei Investitionen tätigen muss. Der Staat stellt die Fabrik sowie die Maschinen zur Verfügung. Und der Transport zum größten Markt der Welt ist billiger als von Thailand oder Burma aus, besonders wenn sich die Produktionsstätte so nah an den Hauptschiffahrtswegen vor Chicago befindet. Also hat man in Coolis begonnen, T-Shirts und Jacken für Global Entertainment herzustellen.«
Morrell runzelte die Stirn. »Klingt widerlich, aber ob das Grund genug wäre, Sie unbedingt umbringen zu wollen?«
»Ich glaube schon, denn da wäre noch dieses Gesetz in Illinois, das bestimmt, dass im Gefängnis nur Dinge hergestellt werden dürfen, die auch im Gefängnis verbraucht werden. Baladine und Teddy Trant von Global sind gut befreundet. Als Baladine die Leitung von Carnifice Security übernommen und den Auftrag bekommen hat, Coolis zu bauen und zu leiten, haben die beiden vermutlich erkannt, welches Potential in den Arbeitskräften eines Gefängnisses steckt. Die beiden sind wiederum mit dem Speaker des Illinois House befreundet. Poilevy hat vor ein paar Jahren sogar eine Sondersitzung der Legislative zum Thema Kriminalität einberufen. Vermutlich hat er Baladine damals weisgemacht, wenn er nur genug Geld in die
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