Die verschwundene Frau
übereilten Aktionen heute nacht, okay, Vic?«
»Das ist alles eine Frage der Definition, Freeman, aber ich glaube, das Gefährlichste, was ich heute noch vorhabe, ist der Versuch, einen fahrbaren Untersatz zu finden.«
Er lachte. »Gar nicht so schlecht, wenn du deinen Sinn für Humor nicht verlierst. Wir unterhalten uns gleich morgen früh.«
Nachdem er aufgelegt hatte, versuchte ich, über meine weiteren Schritte nachzudenken. Ich rief Lotty Herschel an, die ich seit dem Studium kenne. Sie ist mittlerweile Mitte Sechzig, arbeitet aber immer noch voll als Perinatologin im Beth Israel Hospital und leitet außerdem eine Klinik für einkommensschwache Familien am westlichen Rand von Uptown.
Als ich ihr alles erzählt hatte, war sie entsetzt. »Das kann ich fast nicht glauben, Vic. Ich werde Max fragen, was mit der jungen Frau passiert ist, als sie bei uns eingeliefert wurde, aber ich glaube nicht, dass das erklärt, warum die Beamten dir keine Ruhe lassen.«
Ihre Anteilnahme sorgte dafür, dass es mir augenblicklich besser ging. »Lotty, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Kann ich auf einen Sprung zu dir kommen?«
»Wenn du schnell machst. Max und ich wollen in einer halben Stunde weggehen. Könntest du mit dem Taxi kommen?«
Es war kurz vor sieben, als ich am nördlichen Lake Shore Drive aus dem Taxi stieg. Viele Jahre lang hatte Lotty nur ein paar Minuten von ihrer Klinik entfernt im oberen Stockwerk eines zweigeschossigen Hauses gewohnt, das ihr gehörte. Als sie letztes Jahr fünfundsechzig geworden war, hatte sie beschlossen, nicht mehr die Energie fürs Hausbesitzerdasein aufbringen zu wollen, und sich eine Eigentumswohnung in einem der Jugendstilhäuser mit Blick auf den See gekauft. Ich war es immer noch nicht gewohnt, es mit einem Mann am Empfang zu tun zu haben, wenn ich sie sehen wollte, aber auch froh, dass sie an einen sichereren Ort gezogen war. Früher hatte ich mir immer Sorgen gemacht, wenn sie morgens ganz allein in die Klinik ging, denn jeder Süchtige am Broadway wusste, dass sie Ärztin war.
Der Mann am Empfang erinnerte sich wieder an mich, wartete aber lieber trotzdem auf Lottys Erlaubnis, mich heraufzulassen. Lotty stand bereits oben, als der Aufzug den achtzehnten Stock erreichte.
»Ich bin schon auf dem Weg nach draußen, Victoria, aber wir könnten gemeinsam runterfahren, und du kannst mir alles erzählen, wahrend ich dich nach Hause bringe.«
Eine Fahrt mit Lotty am Steuer war fast mehr Abenteuer, als ich mir für das Ende eines anstrengenden Tages wünschte. Sie hält sich für Sterling Moss und die Straßen der Stadt für eine Rennstrecke; eine ganze Reihe von Wagen mit ruiniertem Getriebe und zerbeulten Kotflügeln hat sie nicht vom Gegenteil überzeugen können. Wenigstens hatte der Lexus, den sie nun fuhr, auch auf der Beifahrerseite einen Airbag .
»Die Sanitäter müssen in der Notaufnahme einen Bericht abgegeben haben«, sagte ich, während wir über den Diversey Parkway fuhren. »Von dem hätte ich gern eine Kopie - hoffentlich stehen da die Namen der beiden Beamten drin, die uns in der Nicht befragt haben. Vielleicht ist sogar eine Kopie des Polizeiberichts dabei, der laut Aussage der Beamten vom Rogers-Park-Revier verschwunden ist.«
»Verschwunden? Glaubst du, sie haben ihn absichtlich verschwinden lassen?«
»Diesem Lemour traue ich das schon zu. Aber Berichte gehen immer wieder mal verloren; ich versuche, deswegen nicht paranoid zu werden - jedenfalls noch nicht. Könntest du bitte die Hände auf dem Steuer lassen, auch wenn du dich aufregst?«
»Vic, es geht nicht, dass du zu mir kommst, mich um Hilfe bittest und dann anfängst mich zu kritisieren«, herrschte sie mich an, wandte den Blick aber gerade rechtzeitig wieder der Straße zu, um einem Fahrradfahrer auszuweichen.
Ich gab mir größte Mühe, nicht allzu deutlich hörbar nach Luft zu schnappen. »Außerdem hätte ich gern das Kleid, das Nicola Aguinaldo zum Zeitpunkt ihres Todes getragen hat. Die Laborleute von Cheviot müssen es sich ansehen, um festzustellen, ob Spuren von einem Wagen - besonders von meinem Wagen an dem Stoff sind. Im Leichenschauhaus wollten sie mir nicht sagen, ob ihr Kleidung auch dort ist, aber ich wette, dass sie noch im Krankenhaus liegt, vorausgesetzt, sie ist nicht im Abfall gelandet. Könntest du Max für mich bitten, sie aufzutreiben? Oder mir die Erlaubnis zu geben, dass ich die Leute in der Notaufnahme selber anrufe? Tut mir leid, aber das müsste noch heute abend sein
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