Die verschwundene Frau
mitnahm, saß ich oft zwischen solchen Möbeln: dick gepolsterte Sitzgruppen mit Plastikschonbezügen, ein großer Fernseher mit einem Webteppich aus der alten Heimat und gerahmten Familienfotos darauf.
Mrs. Attar war eine korpulente Frau mit besorgtem Gesichtsausdruck, die ihre Tochter nicht von ihrer Seite ließ. Trotzdem bot sie mir eine Tasse starken, süßen Tee in. Sie war nicht reich, aber bessere Manieren als die Leute in Oak Brook hatte sie allemal.
Ich nippte dankbar an dem Tee, denn die Hitze, die draußen schon schlimm genug gewesen war, wurde hier drinnen fast unerträglich. Nachdem ich mich für den Tee bedankt und den Webteppich auf dem Fernseher bewundert hatte, wandte ich mich meinem eigentlichen Thema zu. Ich konnte nur hoffen, dass Mina das, was ich sagte, richtig übersetzte.
»Ich habe schlechte Nachrichten über Nicola Aguinaldo. Sie ist letzte Woche aus dem Gefängnis geflohen. Haben Sie das schon gewusst? Sie ist gestern gestorben. Jemand hat sie schwer verletzt, als sie zu diesem Wohnhaus unterwegs war, und ich würde gern herausfinden, wer das getan hat.«
»Was? Was sagen Sie?« fragte Mrs. Attar.
Mina sagte etwas auf arabisch. Mrs. Attar fragte nach weiteren Informationen. Mina wandte sich wieder mir zu und übersetzte. Auch das kannte ich. Nach einer gewissen Zeit war das Englisch meiner Mutter ganz ordentlich gewesen, aber ich konnte mich noch gut an die demütigenden Treffen mit Lehrern oder Ladeninhabern erinnern, bei denen ich Dolmetscherin spielen musste.
»Die Mädchen sagen, Sie haben auf Sherree aufgepasst, als das Baby im Krankenhaus war. War das, nachdem Nicola ins Gefängnis gekommen war? Ich weiß, dass das Baby schon vorher krank war.«
Mina übersetzte, zuerst das, was ich gesagt hatte, dann die Antwort ihrer Mutter. »Meine Mutter erinnert sich nicht, dass Sherree hier war.«
»Aber du erinnerst dich, oder?« sagte ich. »Das hast du doch mit deinen Spielkameradinnen beredet, bevor du mich heraufgebracht hast.«
Sie sah mich mit verschlagenem Blick an, erfreut darüber, die Kontrolle zu haben. »Hier in diesem Haus gibt es so viele Kinder, dass sie sie wahrscheinlich durcheinandergebracht haben. Sherree ist nicht hiergewesen.«
Mrs. Attar stellte ihrer Tochter eine Frage. Wahrscheinlich wollte sie wissen, worüber wir uns unterhielten. Während die beiden miteinander sprachen, lehnte ich mich auf dem knisternden Plastik zurück und überlegte, wie ich Mrs. Attar zum Reden bringen konnte. Es war mir letztlich egal, ob sie je auf Sherree Aguinaldo aufgepasst hatte. Ich brauchte nur die gegenwärtige Adresse von Sherree und ihrer Großmutter beziehungsweise die Namen von Männern, mit denen Mrs. Attar Nicola Aguinaldo zusammen gesehen hatte.
Ich wandte mich direkt an Mrs. Attar und sprach ganz langsam. »Ich komme nicht vom Amt. Nicht vom Jugendamt und auch nicht von der Einwanderungsbehörde.«
Ich machte meine Handtasche auf und breitete ihren Inhalt auf dem überfüllten Kaffeetisch aus, meine Kreditkarten und meine Lizenz als Privatdetektivin. Mrs. Attar wirkte einen Augenblick lang verwirrt, schien aber dann zu begreifen, was ich ihr zu zeigen versuchte. Sie sah sich meinen Führerschein und meine Lizenz genau an und buchstabierte meinen Namen auf beiden Ausweisen. Sie reichte sie ihrer Tochter und bat sie um eine Erklärung.
»Sehen Sie?« sagte ich. »Keine Polizeimarke.«
Als Mrs. Attar sich schließlich mir zuwandte, sagte sie in stockendem Englisch: »Heute ist?«
»Donnerstag«, sagte ich.
»Einer vorbei, zwei vorbei, drei vorbei ist?«
»Das wäre Montag, Ma«, mischte Mina sich verärgert ein und fügte etwas auf arabisch hinzu.
Ihre Mutter legte ihr leicht die Hand auf den Mund. »Ich spreche. Männer kommt. Früh, früh, erste Gebet. Ist... ist... «
Sie sah sich hilfesuchend im Zimmer um und zeigte dann auf ihre Uhr. Schließlich drehte sie den Zeiger auf halb sechs zurück.
»Ich wecke Mann, ich wecke Mina, ich wecke Söhne. Zuerst wasche. Schaue hinaus, sehe Männer. Ich Angst. Frau hier, hat Green Card, ich finde.«
»Derwas Mom«, mischte Mina sich ein, schmollend, weil sie die Sache nicht mehr in der Hand hatte. »Sie hat eine Aufenthaltsgenehmigung. Mama hat sie gebeten, die Männer zu fragen, was sie wollen. Sie haben nach Abuelita Mercedes gesucht, also ist Mama sie wecken gegangen - die sind keine Moslems und müssen nicht um halb sechs aufstehen wie wir.«
»Ja, ja. Abuelita Mercedes, sehr gute Frau, sehr gut für Mina, für
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