Die verschwundene Frau
immer hierherzukommen, weil das Essen besser ist und die Regeln nicht so streng sind. Jemandem, der eine lange Haftstrafe zu verbüßen hat, kann das hier wie ein Urlaub erscheinen. Also macht das Gefängnis es den jungen Frauen schwer zu simulieren.«
»Und Nicola Aguinaldo? Wie krank war sie, als sie hier hergekommen ist?«
Schwester Lundgren presste die Lippen zusammen, und ihre Hände bewegten sieh unruhig in ihrem Schoß. »Meiner Ansicht nach sehr krank. Erstaunlich, dass es ihr in dem Zustand gelungen ist zu fliehen.«
»Was hatte sie?« fragte Mr. Contreras. »So 'ne Frauengeschichte? Das haben mir die Leute von der Polizei gesagt, aber ihrer Mutter gegenüber hat sie davon nie was erwähnt...«
»Sie ist vor ihrer Flucht nicht untersucht worden. Die Gefängnisschwester hat mir gesagt, sie hätten eine Eierstockzyste vermutet. Aber sie war verschwunden, bevor ein Arzt sie sich ansehen konnte.«
»Wie hat's die Kleine bloß geschafft, hier rauszukommen?« wollte Mr. Contreras wissen.
Schwester Lundgren sah uns nicht an. »Ich hatte keinen Dienst, als es passiert ist. Man hat mir erzählt, dass sie sich hinter dem Wäschewagen versteckt hat, auf der dem Aufseher abgewandten Seite, und wahrscheinlich ist sie in den Wagen gekrochen, als der Hausmeister stehengeblieben ist, um sich mit jemandem zu unterhalten. Theoretisch muss die Wäsche durchsucht werden, bevor sie die Station verlässt, aber in der Praxis schert sich vermutlich niemand um diese Regel: Schließlich will niemand schmutzige Wäsche anfassen. Außerdem haben ein paar von den Frauen Aids.«
»Und Sie glauben, dass Nicola Aguinaldo auf diesem Weg geflohen ist?« fragte ich in neutralem Tonfall. »War sie denn nicht mit Handschellen ans Bett gefesselt?«
»Doch, aber die Mädchen haben den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als mit ihrer Haarnadel im Schloss der Handschellen herumzustochern. Hin und wieder schafft eine es, sie aufzukriegen, aber viel nützt ihr das dann auch nicht, weil die Station abgeschlossen ist. Ich glaube, ich kann Ihnen sonst nicht weiter behilflich sein. Wenn Sie gern noch ein bisschen allein sein möchten in der Kapelle, bevor Sie gehen, bitte ich einen Aufseher, Sie hinzubringen. Ansonsten begleitet er Sie zum Haupteingang.«
Ich legte ihr meine Visitenkarte auf den Schreibtisch, bevor wir gingen. »Für den Fall, dass sich noch etwas ereignet, das Sie mir mitteilen möchten, Schwester Lundgren.«
Auf dem Weg nach draußen sagte Mr. Contreras völlig frustriert: »Das ist doch nicht zu fassen! In einem Wäschewagen soll sie geflohen sein? Die Dinger sind winzig, da hätte nicht mal Nicola reingepasst. Ich will, dass Sie das Krankenhaus verklagen, weil die Leute nicht richtig auf sie aufgepasst haben.«
Veronica, die Frau, die am Morgen das Baby zur Welt gebracht hatte, kam soeben mit Handschellen an einen Aufseher gefesselt von der Toilette zurück. »Sie kennen Nicola? Was ist mit ihr passiert?«
»Sie ist tot«, sagte ich. »Wissen Sie, warum sie hier im Krankenhaus war?«
Da tauchte Schwester Lundgren neben uns auf. »Sie dürfen hier nicht mit den Patienten sprechen, Ma'am. Sie sind Häftlinge, auch wenn sie sich momentan im Krankenhaus aufhalten. Veronica, wenn Sie sich gut genug fühlen, um im Flur auf und ab zu gehen, können Sie auch wieder ins Gefängnis zurückkehren. Jock, bringen Sie diese Besucher bitte zum Haupteingang. Und zeigen Sie ihnen, wo die Kapelle ist, bevor Sie zurückkommen.«
Einen Augenblick lang wirkte Veronica zornig, doch dann schien ihr wieder einzufallen, wie ohnmächtig sie war, und sie ließ die Schultern hängen.
Jock gab dem Mann hinter der dicken Glaswand die Erlaubnis, die Türen zu öffnen. Vor dem Eingang zum Haupttrakt des Krankenhauses deutete er einen Flur entlang, um uns zu zeigen, wo sich die Kapelle befand.
Poweressen
»Nun, was halten Sie davon, Schätzchen?« fragte mich Mr. Contreras, während er den Sicherheitsgurt anlegte. »Die Schwester hat mir ganz schon unsicher ausgesehen. Und wie konnte eine kleine Frau wie diese Nicola bloß von dort entkommen?«
Darauf wusste ich auch keine Antwort. Schwester Lundgren hatte auf mich einen kompetenten und unter den gegebenen Umständen sogar einfühlsamen Eindruck gemacht. Ich stimmte Mr. Contreras zu, dass sie unsicher gewirkt hatte, aber eine solche Interpretation lag aus meiner Sicht natürlich nahe. Vielleicht machte es ihr zu schaffen, dass sie eine Patientin verloren hatte, und sie wollte uns gar keine
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