Die verschwundene Frau
mich unvermittelt und ging nach unten. Mein Rücken war steif. Wenn Frenada tatsächlich in seiner Fabrik war, konnte ich mich auch persönlich mit ihm unterhalten. Die leise Stimme der Vernunft -gehörte sie Mary Louise oder Lotty?- sagte mir, wenn ich schon unbedingt in diesem Wespennest stochern musste, dann doch wenigstens am Morgen. Und sie ermahnte mich, meine Waffe mitzunehmen, aber was sollte ich mit der? Sollte ich ihm das Geheimnis, auf das Trant so scharf war, vielleicht mit der Pistole entlocken?
Es gibt keinen direkten Weg von meiner Wohnung zu Frenadas Fabrik, also fuhr ich zuerst in südlicher Richtung und dann in westlicher, durch Straßen mit kleinen Holzhäusern, vorbei an skateboard- oder fahrradfahrenden Jungen und Lichtinseln, die aus Bars und Billardsalons drangen. Als ich die Ränder von Humboldt Park passierte, stieg der Lärmpegel wegen der vielen Ghettoblaster, aber in dem schmuddeligen Gewerbegebiet entlang der Grand Avenue war es wieder wie ausgestorben.
Eine Frachtlinie durchschnitt das Viertel im Nordwesten, so dass merkwürdig geformte Grundstücke und Gebäude entstanden waren. Ein Zug ratterte gerade vorbei, als ich den Wagen vor einem heruntergekommenen dreieckigen Haus ganz in der Nähe der Kreuzung Trumbull/Grand Avenue abstellte.
Licht drang aus den offenen Fenstern im ersten Stock. Die Haustür war geschlossen, aber nicht versperrt. Eine nackte Glühbirne hing gleich hinter dem Eingang von der Decke. Torkelnde Buchstaben auf einem Anschlagbrett warben für einen Perückenmacher und einen Schachtelhersteller im Erdgeschoß. Special-T Uniforms befand sich im ersten Stock. Als ich die abgetretenen Betonstufen hinaufging, fiel mein Blick auf lange Haarsträhnen in einer Vitrine. Es war, als wäre ich plötzlich im Dunkeln über eine Guillotine gestolpert.
Und der Lärm, der durchs Treppenhaus drang, klang wie fünfzig Guillotinen, die gleichzeitig die Köpfe abhackten. Ich folgte Licht und Geräuschen über eine Metallbrücke und landete schließlich vor der offenen Tür zu Special-T Uniforms. Obwohl es fast neun Uhr abends war, arbeitete knapp ein Dutzend Leute. Sie schnitten entweder auf den langen Tischen in der Mitte des Raumes Stoff zu oder nähten mit Hilfe von Maschinen, die entlang der Wand aufgestellt waren, Kleidungsstücke zusammen. Den Lärm verursachten zum Teil die Nähmaschinen, aber hauptsächlich die Zuschneidescheren. Zwei Männer legten mehrere Stoffschichten an das Ende der Tische, klemmten sie unter einer elektrischen Schere fest und betätigten dann einen Kontrollschalter, um die Klingen in Bewegung zu setzen.
Ich sah fasziniert zu, wie die Scheren durch den Stoff schnitten und die Männer einzelne Teile zu den Leuten an den Nähmaschinen hinübertrugen. Einer von ihnen befestigte Buchstaben auf dem Rücken der Shirts, ein anderer nähte die Ärmel an. Mindestens die Hälfte der Anwesenden rauchte. Ich musste an die Zigarettenasche an der Innenseite des Kragens von Nicola Aguinaldos T-Shirt denken. Vielleicht stammte sie von demjenigen, der dieses Kleidungsstück gefertigt hatte, und nicht von Nicola selbst.
Lucian Frenada stand an einem der Zuschneidetische, gleich neben einem stämmigen Mann mit schütterem schwarzen Haar. Sie schienen sich über die richtige Stelle für einen Aufdruck zu unterhalten. Ich ging auf die beiden zu, damit Frenada mich sah - wenn ich ihm auf die Schulter tippte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, erschreckte ich ihn womöglich.
Frenada hob stirnrunzelnd den Blick. »Si? Le puedo ayudar en algo?«
Ich hielt ihm meine Visitenkarte hin. »Wir haben uns bei Lacey Dowells Party letzte Woche schon mal unterhalten«, rief ich, um den Lärm der Maschinen zu übertönen.
Der Mann neben ihm starrte mich mit unverhohlener Neugier an. War ich Frenadas Freundin? Oder kam ich von der Einwanderungsbehörde und wollte die Papiere aller Anwesenden sehen? Frenada berührte seinen Arm und sagte etwas auf spanisch. Dann deutete er auf den Boden, auf dem knöcheltief Stoffreste lagen. Der Mann wies einen seiner Arbeiter an, den Boden zu fegen.
Frenada dirigierte mich zu einer Kammer am hinteren Ende des Raumes, in der es ein wenig leiser war, so dass wir uns unterhalten konnten. Stoffmuster zierten die Oberfläche des Metalltisches; an der Tür und an den Seiten eines alten Aktenschrankes klebten Produktionspläne. Auf dem einzigen Stuhl lag ein Nähmaschinenmotor. Frenada lehnte sich gegen die Tür; ich stützte mich an der Kante des
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