Die Verschwundenen
stand leer und unberührt vor dem maroden Haus. Niemand machte sich daran zu schaffen, niemand versuchte, Lack und Scheiben mit ein paar netten Scratchings zu verzieren. Cotton fand das beruhigend. Trotzdem war er froh, dass er mit einem Dienstwagen unterwegs war und nicht mit seinem Dodge.
Ein bestialischer Gestank schlug ihm aus dem Hausflur entgegen. Er lauschte und hörte Stimmen, Schnarchen und lautes Gebrüll aus einem der oberen Stockwerke. Vorsichtig schob er den Türflügel mit der Fußspitze auf und spähte durch den Gang. Wohnungstüren standen offen oder hingen eingetreten in den Angeln, obwohl die Räume dahinter bewohnt aussahen.
Cotton überlegte, wohin Mason sich gewandt haben mochte. Dann stieg er die knarrende Treppe hinauf.
Auf dem nächsten Absatz hielt er inne. Eine schwarze Frau hockte auf den Dielen in der ersten Etage. Ihr Alter ließ sich schwer bestimmen; Cotton hätte sie auf über fünfzig geschätzt, aber in dem schwachen Licht, das aus einer Wohnungstür in den Flur fiel, sah er kein Grau in den wirren, ungepflegten Haaren.
Die Frau saß auf einem Berg leerer Verpackungen und Tüten, aus denen Flaschenhälse ragten. Ein Stück den Flur entlang hörte Cotton Stimmen aus dem Lärm heraus – Stimmen, die zielgerichteter, geschäftsmäßiger klangen als die übrigen Laute des Hauses.
Er bewegte sich darauf zu.
Die schwarze Frau blickte zu ihm auf. Das Weiß in ihren Augen leuchtete.
»Pssst!« Cotton lächelte und legte einen Finger auf die Lippen.
»Bulle«, sagte die Frau verächtlich.
Cotton sah sie an.
»Bulle«, wiederholte die Frau, diesmal lauter.
Cotton nestelte eine Dollarnote aus der Tasche und versuchte, sie damit zu beruhigen.
Die Frau nahm eins der Pergamentpapiere von dem Abfallhaufen, auf dem sie saß, und warf es nach Cotton. Es segelte harmlos zwischen ihnen zu Boden. »Bulle!«, rief sie laut.
Cotton hatte das Gefühl, dass es in dem Haus merklich stiller geworden war. Er spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut.
»Bulle!«, brüllte die Frau. Sie fischte weitere Abfälle aus ihrem Haufen und schleuderte sie nach Cotton. Dabei kreischte sie immer lauter, jedes Mal dasselbe Wort, und warf immer mehr Unrat auf ihn. Cotton wich einer Flasche aus.
»Bulle! Bulle! Bulle!«, schrie die Frau.
Cotton zögerte, aber er konnte nichts tun. Der Sinn einer Observierung bestand darin, Informationen zu sammeln, ohne bemerkt zu werden. Und was das betraf, konnte es nur schlimmer werden, wenn er hierblieb, egal, was er anstellte.
Er zog den Kopf zwischen die Schultern und trat den Rückzug an. Als er unten auf die Straße stürmte, erklang hinter ihm noch immer das Gekeife der alten Frau aus dem ersten Stock.
Decker stand beim Wagen. Sie schaute ihn an und grinste. »Ein voller Erfolg, was?«, spöttelte sie. »Hat man auf Sie geschossen, oder ist das ein Ketchupfleck an Ihrer Brust?«
Cotton sah an sich herab. »Scheiße!«, fluchte er und wischte über die Jacke.
»Kommen Sie«, sagte Decker. »Steigen Sie ein! Wir fahren lieber, ehe es hier noch ungemütlicher wird.«
Sie fuhren los, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
»Das war ein Griff ins Klo«, sagte Cotton, als sie einen weiteren Block entfernt waren. »Wir haben Skalsky aus den Augen gelassen, und Mason haben wir auch verloren. Jetzt stehen wir mit leeren Händen da.«
»Das würde ich nicht sagen.« Decker wies nach hinten auf die Rückbank, wo Cotton ein paar versiegelte Plastikröhrchen erblickte. »Ich habe grobe Kleidung und schwere Stiefel in Masons Auto entdeckt, während Sie fort waren. Außerdem habe ich einen Sender hinter seine Stoßstange geklebt, sodass wir ihn in Zukunft leicht wiederfinden.«
»Dann war ich also ein Ablenkungsmanöver?«, fragte Cotton. »Und Sie haben Masons Wagen aufgebrochen? «
»Stellen Sie sich nicht so an«, sagte Decker. »Ein Auto ist keine Wohnung. Ich brauche keinen Durchsuchungsbefehl für eine Fahrzeugkontrolle. Mit den Proben von seinen Stiefeln können wir jetzt immerhin nachprüfen, ob er in den letzten Tagen bei den Docks war oder ob die Fasern seiner Jacke zu irgendwelchen Spuren vom Tatort passen.«
»Stimmt auch wieder«, sagte Cotton. »Der Zweck heiligt die Mittel.
3
Cotton gähnte. Nach dem nächtlichen Einsatz mit Decker war er nicht nach Hause gefahren, sondern gleich zurück ins HQ. Dort ging er die Daten durch, die Zeerookah ihm auf den Rechner gelegt hatte. Er war immer noch damit beschäftigt, als Decker viel später am Tag eintraf.
Sie grüßte
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