Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht
in der oberen, Calla in der unteren Etage â, wandte Jill die Augen nicht ab. »Draufgängerisch«, nannte Calla das und erinnerte sich noch an andere Impressionen: an Jills klares Profil, ihre dunkelblonden Locken und grünen Augen, ihren schlanken, durchtrainierten Körperbau und daran, wie sie, nachdem Calla sich abgewandt hatte, um mit jemand anderem zu flirten, sich vor ihr aufgebaut und auf drollige Weise erklärt hatte, es mit der Konkurrenz aufzunehmen. Calla nahm sie mit nach Hause. Den GroÃteil des Jahres, bevor sie sich begegneten, hatte Calla, die damals Anfang 40 war, sich in Enthaltsamkeit geübt. Sie wollte damit quasi alles eliminieren, was zu ihrer letzten Beziehung geführt hatte, zu ihrem letzten raschen und leidenschaftlichen Treueschwur, ihrem letzten Versuch eines Zusammenlebens, ihrer letzten Enttäuschung, ihrer letzten Flucht und zu ihrer letzten Wiederholung dieser Ereignisse. In jener Nacht mit Jill, der kleinen, drahtigen, unerschrockenen Jill, hatten sie ununterbrochen Sex ge habt. Das war fast so gewesen, als sei das letzte Jahr innerhalb weniger Stunden vergangen.
Bei Calla hatte es diesen einen entscheidenden Moment gegeben. Eines Nachmittags in der Highschool, im Sportunterricht, auf einem Volleyballfeld, zwei Plätze von ihrem eigenen entfernt, mit den blau-weiÃen Bällen, schwarz- weiÃen Netzen, abgeschnittenen Shorts und Sporttrikots zwischen ihnen, da war ihr eine Klassenkameradin aufgefallen, die sie zuvor zwar schon gesehen, aber mit der sie noch kaum je gesprochen hatte. So wie jetzt war sie ihr noch nie aufgefallen, nie hatte sie so reagiert, mit diesem unbestimmten Gefühl von drohendem Chaos. Vor sich selbst erschrocken, stellte sie sich einige Tage später auf die Probe. »Ich malte mir aus, wie es wäre, sie zu lecken«, sagte sie. »Und als ich damit fertig war, dachte ich bei mir, nein, das will ich nicht.« Zu ihrer groÃen Erleichterung bedeutete das für sie, nicht lesbisch zu sein.
Bald schrieb sie dem Mädchen Gedichte. Sie schminkten sich gegenseitig und versicherten einander, wie hübsch sie seien. Sie verbrachte fast jeden Abend im Haus dieser Freundin, in ihrem Bett. Beide in Unterwäsche. Sie kitzelten sich oder strichen sich mit den Fingern über Arme und Beine. Mehr passierte nicht. Erst in ihrem ersten Jahr am College stahl sie sich von einer Party davon und zu einer Tanzveranstaltung im Zentrum für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle der Universität. Das endete damit, dass sie sich zum ersten Mal ganz dem Körper einer Frau hingab. Nach dieser Nacht im Bett einer älteren Studentin »begriff ich, wie verrückt ich nach Mädchen war«.
Seit damals sind zwei Jahrzehnte vergangen. Vorsichtig schob sie das Zusammenwohnen mit Jill hinaus, bis der erste Ãberschwang sich gelegt hatte. Sorgsam wog sie die Vor- und Nachteile ab. Streng hatte sie sich selbst das Versprechen abgenommen, die Betrügereien und das Abtauchen von früher nicht mehr zu wiederholen. Die kleine gemeinsame Wohnung lag in dem Viertel Queen Anne Hill, wo sie auf den efeuumrankten Treppen so dankbar geweint hatte. Inzwischen standen sie oft, nachdem sie am Abend zusammen ausgegangen waren, am Fenster mit Blick über den Puget Sound, teilten sich eine seltene Zigarette und blickten aufs dunkle Wasser hinaus, wo sich die Umrisse der Insel schwach abzeichneten.
Manchmal begann der Sex hier, meist nach sechs, sieben oder acht keuschen Nächten. »Sollen wir?«, pflegte Jill dann leicht ironisch zu fragen und spielte vielleicht noch auf die inzwischen vergangenen Nächte an.
Calla antwortete dann, sie sollten.
»Du klingst nicht gerade enthusiastisch.«
»Geh ins Bett. Hol das Spielzeug raus und zieh dich aus.«
»Ich muss mich zwingen, meine eigenen Widerstände zu überwinden«, erzählte sie mir. »Wenn Jill mich fragt, dann kommt es mir vor, als würde ich nicht wirklich wollen. Ich sollte es wollen und fühle mich schuldig, weil ich es nicht will. Dann sage ich mir selbst, dass ich mich locker machen muss, dass es schon zu lange her ist. Und wenn wir dann loslegen, macht es SpaÃ, und ich kann spüren, wie es sie anmacht, und dadurch kann sich mein Körper besser fokussieren. Bis dahin fantasiere ich â mal von anderen Frauen, manchmal von einem Mann. Stimmt irgendwas nicht mit mir, weil ich fantasieren muss, um mit ihr zusammen zu sein? Ich denke schon.
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