Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht
erstaunt angeschaut. »Im Ernst?« Sie schätzten ihn zwar als zuverlässigen Freund, sahen aber nicht gerade den Traummann in ihm. Allerdings war der Typ, von dem Sophie sich gerade getrennt hatte, ein Maler mit Brustwarzen-Piercing und muskulösem Oberkörper gewesen. Der hatte ein düster extravagantes Porträt von ihr gemalt, auf dem sie als Leiche dargestellt war. Aus heutiger Sicht klingt das geradezu albern melodramatisch, aber für eine ganze Weile war sie nicht nur von seiner Kunst im Gothic Style fasziniert gewesen, von seinem glitzernden Schmuck, der breiten Brust, sondern auch von seiner herablassenden Gleichgültigkeit â selten machte er sich auch nur die Mühe, seine Zähne zu putzen. Diese Art schien dafür zu sorgen, dass ihm die Frauen scharenweise nachliefen. Er betrog sie zudem regelmäÃig.
Kurz nachdem diese Beziehung ein verheerendes Ende gefunden hatte, tauschte Paul eines Tages an der Krankenpflegeschule seinen hellblauen Kittel gegen einen dunkelblauen Anzug und hielt termingerecht ein Referat. Darin sollte ein ethischer Konflikt besprochen werden, vor dem man als Krankenpfleger stehen kann. Er hatte aus dieser Aufgabe eine Quizshow gemacht. Er selbst gab den Moderator, seine Ausbildungskollegen konnten Punkte gewinnen, wenn sie die richtigen Fragen stellten, um das Problem zu analysieren und schlieÃlich zu lösen. Damit erwachte Paul für Sophie quasi zum Leben. Sie war überwältigt von seinem Einfallsreichtum und Engagement; er hatte so gar nichts Lässiges an sich. Ihre Erinnerungen daran, wie sie in prächtigen Pinselstrichen als eine Frau dargestellt wurde, die bereit fürs Begräbnis ist, begannen zu verblassen â¦
Gleich zu Beginn ihrer ersten Verabredung â nach dem Stille-Post-Spiel â lenkte Paul den Wagen an den StraÃenrand, hielt an, sprang hinaus, öffnete den Kofferraum und kam mit einem Rosenstrauà zurück. Dazu erklärte er, dass er ihr die Blumen nicht mit an die Haustür hatte bringen wollen, weil sie noch bei ihren Eltern wohnte und ihr das vielleicht peinlich gewesen wäre. Sie fand diese Schüchternheit auf der einen und die Entschlossenheit, ihr trotzdem Blumen zu schenken, auf der anderen Seite entzückend. Sie waren sehr bewusst zusammen. Ihre Dates dauerten ganze Nächte, aber den ersten Sex schoben sie zwei Monate lang hinaus. Und selbst dann taten sie es weder in ihrem noch in seinem Elternhaus â auch er lebte damals noch daheim. Sie planten dieses Ereignis. Er buchte ein Zimmer in einem Ferienhotel in der Nähe. Nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten â der eigentliche Sex war ungefähr so kurz gewesen, wie sie es erwartet hatte, nachdem sie ihn so lange aufgeschoben hatten â, kamen ihr die Tränen.
Er fragte, ob er ihr wehgetan hätte. Sie versicherte ihm, das sei nicht der Fall. Er fragte, ob sie enttäuscht sei. Da sagte sie, dass es sie zum Weinen brächte, zu wissen, dass sie nie mehr Sex mit einem neuen Liebsten haben würde. Er begriff, dass es Tränen der Dankbarkeit waren, und gestand ihr, dass es ihm genauso gehe. Sie verspürte zwar ein gewisses Bedauern, das sie für sich behielt, eine Art Verlust, aber sie umschlangen einander schon bald wieder, und diesmal liebten sie sich länger. In den folgenden zwei Jahren, bis sie heirateten und zusammenzogen, verschworen sie sich bei der Suche nach Gelegenheiten, sich in ihrem jeweiligen Elternhaus zu treffen und miteinander zu schlafen, ohne die Eltern in Verlegenheit zu bringen. Der bewusste Vorsatz, der dafür nötig war, das unumwundene Wissen, dass sie einander begehrten, und der Umgang mit ihren Gefühlen ohne jede Schüchternheit zeigten ihnen, dass durch Offenheit auch ein besonderer Zauber entstehen kann.
Diese Transparenz zog keine Langeweile nach sich. Für sie war Lust nicht von Ungewissheit abhängig oder von der Sorge, ob der andere sie genauso wollte. Manches war, Jahre später, mit drei Kindern einfach nicht mehr möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Kinder sie in der Nacht brauchte, hatte zur Folge, dass sie nicht mehr nackt schlief. Damit blieb ihr die Lust verwehrt, ihre eigene Nacktheit als konstante Provokation zu empfinden. Und weil die Kinder am Samstagmorgen die reinsten Energiebündel waren, konnten sie und Paul in der Zeit auch nicht mehr ihre Wünsche ausleben. Zuletzt hatte noch seine Weiterbildung ihre Abende zerrissen.
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