Die Versteckte Stadt: Thriller
hatte sie darauf bestanden, das nun endlich zu erledigen, auch wenn Max behauptet hatte, dass gerade heute ein besonders schlechter Tag dafür wäre.
Julias Blick schweifte durch die Abteilung des Kaufhauses. Während sie darauf wartete, dass der Junge aus der Umkleidekabine zurückkam, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie sehr sie ihn bereits ins Herz geschlossen hatte. Sie mochte es, wie er sie anschaute, wie er sprach, wie er kurz überlegte, bevor er etwas sagte, und es gefiel ihr auch, wie er mit ihren Kindern, allen voran natürlich mit Max, umging. Aber war es nicht trotzdem voreilig gewesen, ihn bei sich aufzunehmen? Sie kannten ihn doch fast gar nicht. Konnten sie sicher sein, dass er das zerbrechliche Gleichgewicht ihrer Familie, um das sich Julia seit Jahren bemühte, nicht vielleicht stören würde? Soweit sie es beurteilen konnte, gab es dafür bisher zwar keinerlei Anzeichen, aber er lebte ja auch erst seit gut zwei Wochen bei ihnen …
Julias Blick blieb an einer Mutter hängen, die mit ihrem Sohn einkaufte. Was war nur in Xaver gefahren, dass er so leichtfertig eine Entscheidung fällte, die so weitreichend war? Natürlich hatte er gefragt, was sie davon hielt, wenn Till erstmal bei ihnen blieb, und sie hatte nicht nein gesagt. Sie hatte gemeint, dass sie es mittragen würde. Aber sie hatte Xaver in dieser Sache auch nicht gerade befeuert. Nein, Xaver wollte das , er wollte den Jungen aufnehmen. Aber wieso? Das war es, was Julia in den vergangenen Tagen im Kopf herumgegangen war, ohne dass sie eine klare Antwort darauf gefunden hatte.
Xaver direkt danach zu fragen, war ihr allerdings auch unpassend vorgekommen. Sie konnte sich seine Antworten, seine Gegenfragen nur zu gut vorstellen: Warum er den Jungen aufnehmen wollte? Hätte er das Heim benachrichtigen sollen? Der Junge war in Ordnung, er verstand sich mit Max, er brauchte ein Zuhause. Natürlich mussten sie ihn aufnehmen, hätte Xaver geantwortet, zumindest vorläufig, für eine gewisse Zeit. Aber Julia war klar, dass es, je länger Till bei ihnen blieb, desto schwerer für alle werden würde, ihn wieder wegzuschicken. Schon jetzt war es im Grunde genommen so gut wie unmöglich. Max würde es ihnen niemals verzeihen.
Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück und stellte die Tüten mit den Hemden, T-Shirts und Strümpfen, die sie bereits eingekauft hatten, neben sich auf den Fußboden. Jetzt saß sie hier und Till, den sie kaum kannte, würde herausgeschossen kommen und ihr zeigen, ob die Jeans passten. ‚Wie ein Sohn‘, ging es ihr durch den Kopf. Aber das war er nicht. Was waren seine Eltern für Menschen gewesen? Er war in Berlin geboren, soviel wusste sie inzwischen, alles andere lag letztlich im Dunkeln. Xaver hatte es übernommen, sich um die Behördengänge zu kümmern - dabei war Xaver sonst immer so peinlich darauf bedacht, nur ja keine Minute seiner kostbaren Arbeitszeit zu vergeuden …
Julia nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich über die Nase. Xaver … Was war das nur bei Felix gewesen, das plötzliche Nasenbluten? Er hatte sich zwar rasch wieder einigermaßen erholt und doch vollkommen aufgelöst gewirkt. Das Einzige, was ihn wirklich beschäftigt zu haben schien, war, ob den anderen Gästen etwas aufgefallen war! Sie hatte sich Sorgen gemacht, ob er erkrankt war, und er dachte nur an die anderen? Als sie ihn gefragt hatte, wie es ihm ginge, hatte er nur unverständlich geknurrt und dann nichts Eiligeres zu tun gehabt, als ein paar Scherzworte mit Felix über den Zwischenfall zu wechseln. Kein vernünftiges Wort war über die ganze Sache aus ihm herauszuholen gewesen.
„Frau Bentheim?“
Julia sah auf. Vor ihr stand Till. Seine langen dünnen Beine steckten in einem Paar Jeans, darüber trug er ein langärmliges T-Shirt, das fast genauso aussah wie das, das er angehabt hatte, als sie ihn angefahren hatte. Über seinem Arm lag eine blau-weiße Windjacke. Julia lächelte. Er sah hübsch aus.
„Geht das so?“
Sie erhob sich und strich ihm über den Kopf. Wie sollte er sie nennen? ‚Frau Bentheim‘? Das ging doch nicht. ‚Mama‘? Auf keinen Fall. ‚Julia‘? Was würden die anderen Kinder davon halten. ‚Tante Julia‘? Hmmmm …
„Prima. Jetzt brauchen wir nur noch Schuhe, oder?“
Till grinste. „Darf ich Turnschuhe haben? Haben doch alle jetzt.“
„Aber auch ein paar richtige!“ Julia setzte sich Richtung Schuhabteilung in Bewegung - und fühlte, wie der Junge neben ihr hertrottete. So
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