Die Versteckte Stadt: Thriller
bisher immer gesagt: „Kann ich bitte das Salz haben“, stimmt‘s?‘
Die Mutter nickte. Worauf wollte der Junge hinaus?
‚Eben.‘ Bengt sah sie lächelnd an. ‚Aber ab jetzt sage ich stattdessen nur noch „4“. „4“ bedeutet: „Kann ich bitte das Salz haben.“ Okay?‘
Bengts Mutter warf seinem Vater einen langen Blick zu. Aber Bengts Vater hatte es sich abgewöhnt, zuzuhören, wenn sein Sohn etwas erzählte. Er hatte die Zeitung neben seinem Teller liegen und bemerkte nicht einmal, dass seine Frau zu ihm sah.
‚4‘, hörte sie Bengt sagen - und schaute zu ihm.
Ihr Sohn strahlte sie an. Seine Augen wanderten zum Salzfässchen, das neben ihr stand und er nickte heftig mit dem Kopf. Fast hatte sie den Eindruck, als würde er mit den Lippen lautlos „Das Salz, Mama, das Salz!“ formen, zu hören war jedoch nichts.
Sie atmete aus, griff nach dem Fässchen und schob es ihm über den Tisch zu.
‚9‘, sagte Bengt und schüttelte sich - offensichtlich hochbefriedigt, dass das mit der 4 so gut geklappt hatte - ein paar Körnchen auf das weiche Ei, das in einem Becher vor ihm stand.
‚Und das heißt „Danke“, oder was‘, sagte seine Mutter und sah ihn an.
‚1.‘
Sie konnte förmlich sehen, wie er innerlich lachte.
‚“1“ ist „ja“, stimmt‘s?‘ Jetzt musste sie auch grinsen.
‚1.‘
‚77‘, erwiderte seine Mutter.
Bengts Löffel blieb auf halber Strecke zu seinem Mund stehen. ‚“77“?‘
‚Heißt „Okay“.‘
‚2. „Okay“ 12 „20“.‘
‚Nein. „Okay“ heißt „20“?‘
‚1.‘“
Xaver hielt inne und schaute zu Max, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte. „Alles klar?“
Max schaute zu Till. „1.“
Bentheim nickte und seine Augen wanderten zu Till. „Wollt ihr weiter hören oder lieber was anderes?“
„Mach schon Papa, lies weiter“, kam Max Till zuvor. „Du hast mir noch nie eine von deinen Sachen vorgelesen, ich will die Geschichte jetzt ganz hören.“
Bentheim lächelte, es kam Till so vor, als freute er sich über die Antwort seines Sohnes. Max‘ Vater beugte sich wieder über das Buch. „Von diesem Tag an war Bengt - “
„‘Bengt‘ … was ist das überhaupt für ein Name?“ Max hatte die Hände unter seinem Kopf hervorgezogen und sich auf den Ellbogen gestützt.
„Schwedisch, glaube ich.“ Sein Vater runzelte die Stirn.
„Okay.“ Max sank wieder auf seine Matratze. „Tschuldigung.“
„Von diesem Tag an war Bengt nicht mehr zu bremsen“, hob Bentheim wieder an. „Er begann, systematisch alle Sätze und Wortkombinationen, die er wiederholt benutzte, durch Zahlen zu ersetzen. Wenn er mit seinen Autos spielte und sich vorstellte, dass der offene Rennwagen den Jeep überholte, sagte er nur noch ‚454‘ zu sich und wusste, dass er eine Menge Worte gespart hatte. Wenn er überlegte, ob er ein Buch lesen oder Fußball spielen gehen sollte, sagte er sich nur noch ‚2008‘ und wusste, was gemeint war. Vor allem aber entwickelte er für die Geschichten, die er sich ausdachte, bevor er abends einschlief, eine ganze Masse von Abkürzungen, um möglichst schnell die immer gleichen Ausgangskonstellationen zu überwinden und in die Verästelungen hineinzukommen, die er sonst nur erreicht hätte, wenn er erst stundenlang phantasiert hätte. Ein Junge verirrt sich im Wald? ‚97‘. Der Junge stößt auf ein einsames Haus? ‚112‘. In dem Haus lebt eine arme Frau zusammen mit ihrer Tochter? ‚217‘. Die Tochter verliebt sich in den Jungen? ‚242‘. Sie verliebt sich nicht in den Jungen? ‚243‘. Erstmal nicht? ‚244‘. Und so weiter. So brauchte er sich nur zu sagen ‚97 112 218 - ‘“
„‘218‘?“ Wieder war es Max, der dazwischen gekräht hatte.
„‘218‘, ja: In dem Haus lebt nicht eine arme Frau mit ihrer Tochter, sondern ein armer Mann mit seiner Tochter.“
Max warf Till einen Blick zu.
Aber Till starrte nur zu Bentheim.
Der hatte die Augen schon wieder auf die Buchseiten vor sich gerichtet und las weiter. „‘ … 218 244‘ - und schon wusste er, dass sich der Junge im Wald verirrt, auf ein einsames Haus stößt, in dem ein armer Mann mit seiner Tochter haust, die sich erst einmal nicht in den Jungen verliebt. Erst einmal, wohlgemerkt. Und so konnte er weiterspinnen: ‚411 739 9030 9966‘, sodass die Geschichte im Handumdrehen eine Räuberbande umfasste, die dem Vater der Tochter große Sorgen machte, den Kampf des Jungen gegen den Häuptling der Räuber und einen ersten schweren
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