Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
andere. Ihm gegenüber trat ein kräftiger,
breiter Junge, der vielleicht eins, zwei Jahre älter war als Jay. Sein Blick
war ungerührt, kalt und verbittert. Seine schmalzigen Haare glänzten in der
öden Morgensonne, seine unreine Haut war rötlich und ungepflegt. Bewaffnet war
der Kerl mit einem einfachen Knüppel, das grobe dicke Holzstück war bei diesem
Kerl mit dieser Kraft eine tödliche Waffe.
Von der hintersten Ecke aus beobachtete sie das Geschehen. Der erste
Kampf. Ein großer, muskulöser junger Mann, bewaffnet mit einem Schwert gegen
einen breitschultrigen, kräftigen Mann mit Knüppel. Ihren Berechnungen nach
konnte das ein spannender Kampf werden. Wenn man die Masse des Mannes mit den
Schmalzlocken beachtete, dann war klar, wie tödlich der Knüppel war. Obwohl die
Waffe eine große Angriffsfläche bot, die Kraft von Schmalzlocke schien gewaltig
und man musste auch die Geschwindigkeit beachten, mit der er zuschlagen würde.
Doch der andere war auch nicht zu unterschätzen. Das Schwert hatte die kleinere
Angriffsfläche, also den größeren Druck und es war scharf. Schwach schien er
auch nicht, sein Oberkörper war übersät mit Muskeln. Jetzt würde es spannend
werden. Die Kampfrichter hatten den Kämpfern ihre Schutzkleidung übergelegt.
Eine simple gepolsterte Weste. Mehr nicht. Der restliche Körper blieb
ungeschützt.
„Wer wird gewinnen, Abigail?“, fragte ihre Schwester, die sie aus dem
Augenwinkel beobachtete.
„Ich tippe auf Schmalzlocke.“, sagte sie trocken, ohne ihr
Zwillingsschwester eines Blickes zu würdigen.
Okay, ich schaffe das! Er tippte von Fuß auf Fuß. Ich kann
kämpfen!
Er schnaufte nervös.
Ich kann das! Ich bin geübt! Ich kann das!
Es war soweit. Mit einem Schlagen von Holz auf Holz war das Startsignal
gegeben. Jay drehte sich noch einmal kurz um, schaute in die funkelnden Augen
von Grace und in die toten, verwirrten Augen von Ceela.
Auf geht’s!
Er stieß vorwärts. Das Schwert bohrte sich in die schützende Weste.
Schmalzlocke stolperte nach hinten. Er verfing sich in dem Begrenzungszaun und brüllte
barbarisch. Dann war er wieder auf den Beinen und schwang den Knüppel wild
durch die Luft. Jay wich den unkoordinierten Schlägen aus und stieß das Schwert
in den Oberschenkel des kräftigen Kerls. Blut quoll aus der Wunde und
Schmalzlocke schrie gequält auf. Jay fühlte mit ihm und wurde von einem
klagenden schlechten Gewissen geplagt. Doch was sollte er tun?
Oh Gott! Ich kann das nicht! Ich kann ihn doch nicht umbringen!
…Okay beruhig dich, Jay! Du musst ihn nicht umbringen…
Vor Schmerzen krümmte sich Schmalzlocke auf dem Boden. Es war ein
tiefer glatter Schnitt, der in dem Speck prangte. Jay hielt es nicht mehr aus.
Ich kann ihn da nicht liegen lassen!
Er kniete sich neben den breiten Mann. Er schob den Ärmel der
Trainingskleidung nach oben und zog das dünne Shirt das er drunter hatte
hervor. Er riss einen breiten Streifen Stoff ab und wollte die Wunde verbinden.
Da spürte er den hohlen Schmerz. Wie in Trance tastete er an seine Stirn…und
spürte die klaffende Wunde, aus der Bäche von purpurrotem Blut strömten…
Kapitel 31
Ceelas Brustkorb hob und senkte sich langsam. Sie war nervös. Wer stand
da vor ihr? Egal, das musste sie nicht wissen. Sie musste sich konzentrieren.
Das dumpfe Schlagen zweier Eichenholzblöcke. Start! Sie verschaffte sich so viel
Entfernung wie möglich zu ihrem Gegner. Hastig zog sie einen Pfeil aus dem
Köcher, legte ihn auf und spannte die Sehne.
Konzentrier dich!
Ihr schlagendes Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie schaltete alles
aus, fokussierte ihre Sinne auf das Feld vor ihr, bis ihr der menschliche
Geruch entgegenschlug, und das Geräusch eines schlagenden Herzens. Da war ihr
Gegner, stand reglos da, machte keine Anstalten sich zu bewegen.
„Ich kämpfe nicht gegen behinderte Leute!“ rief eine männliche Stimme,
eine tiefe, starke Stimme.
Behindert…?!
Sie ließ los. Der Pfeil surrte durch die Luft. Einen Moment lang stand
sie still da und folgte dem Zischen des Pfeils, atmete nicht, tat keine
Bewegung. Dann atmete sie auf und ihr Herz machte einen Sprung.
Verwundert senkte er den Kopf. Er starrte fassungslos auf den Pfeil,
der in der Weste steckte, links, haargenau an der Stelle, wo sich unter der
Kleidung, unter der Haut, das Herz befand.
Das kann doch nicht…!
Das Schlagen des Holzes ertönte in zwei Schlägen in kurzem Abstand. Der
Kampf war beendet. Aber warum jetzt schon? Sie
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