Die Verstummten: Thriller (German Edition)
fast ein ganzer Hausstand ragte, ähnlich dem, wie er in Carinas Tasche steckte. Socken, Boxershorts, Ordner, Turnschuhe, Deo, Hefte, Schreibzeug, ein Schlafsack, halb aufgerollt. Das Bett wirkte unbenutzt, die Decke und das Kopfkissen waren ordentlich gefaltet. Neben Enricos Zimmer befand sich ein kleines Bad mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Alles penibel sauber, wie ein frisch aufgeräumtes Hotelzimmer, eine Zahnbürste in einem Glas, sogar ein gefaltetes Handtuch hing über dem Halter.
Im nächsten Raum fehlten die Möbel. Bis auf Ringe an der Vorhangstange war er leer. Wurde hier gerade renoviert? Carina kam ihrem Vater zuvor und drückte die Klinke an der Stirnseite ins nächste Zimmer.
Auf den ersten Blick bot sich ein friedliches Bild. Ein Brautpaar, wie auf dem Hochzeitsfoto von der Treppe. Unverkennbar, es waren Enricos Eltern. Nur dass sie nicht unter blauem Himmel standen, sondern auf dem Doppelbett lagen, die Oberkörper zugedeckt. Olivia trug ein Brautkleid über den Jeans, ihr rechter Arm hing herab, und die Spitze ihres Zeigefingers berührte den Teppichboden.
Eine Fliege sirrte über dem Ehebett.
Die wächsernen Gesichter, die halb geöffneten, glanzlosen Augen und das kleine Loch in Jakobs Stirn sagten Carina, dass beide, obwohl kein Blut zu sehen war, nicht mehr lebten.
5.
München-Grünwald, vier Monate vor dem Ursprung
»Frau Schwalbe, der Bach stottert, weil der CD -Spieler spinnt.« Elena, die Azubine, stürmte in ihr Privatzimmer, riss mit ihrem Ärmel den Stapel Sterbebilder herunter, der, frisch aus der Druckerei, auf der Kommode lag. »Tut mir leid.« Sie bückte sich und sammelte alles wieder auf.
»Moment.« Noch einmal biss Gloria von der Semmel ab, setzte die letzten Häkchen in das Sargausstattungsformular im Computer und schickte die Bestellung mit einem Klick ab. Aus einer Schreibtischschublade nahm sie eine Tube und reichte sie Elena.
»Zahnpasta?«
»Reib die CD damit ein, dann gut abspülen und abtrocknen, danach müsste das Agnus Dei wieder laufen.«
Elena nickte. »Und die Gemeinde Taufkirchen fragt wegen einer Grabauflösung an.«
»Ich rufe zurück.« Eigentlich hatte sie noch in Ruhe frühstücken wollen. »Noch was?«
»Äh ja, ein Anruf aus dem Hospiz. Frau Schwalbe, bei Ihnen klebt da was Rotes.« Elena tippte auf ihren eigenen Mundwinkel.
»Marmelade, nichts weiter.« Gloria wischte sich übers Gesicht.
Als das junge Mädchen gegangen war, fuhr sie den Computer herunter und schaltete den Wasserkocher ein. Nachdem sie in der bauchigen Silberkanne einen Chai aufgegossen hatte, trug sie das Tablett mit dem Teegeschirr und einem Teller Keksen in das Beratungszimmer und stellte es auf dem achteckigen Tisch im Erker ab. An diesem Morgen stand ein erstes Gespräch für die Beisetzung zweier Unfalltoter an. Gloria nahm das Sieb aus der Kanne, fächelte sich den Geruch in die Nase, schloss die Augen und sog den Vanilleduft ein. Sie sah auf die Uhr. Zwei vor acht. Sie ließ sich auf der gepolsterten Bank nieder, die genau in die Fensternische eingepasst war, schob sich ein Karamellplätzchen in den Mund und ließ es auf der Zunge zergehen. Ihr Blick huschte an ihrem Körper hinunter, ihr Bauch drohte ihren Busen zu überholen. Die Knopfleiste spannte, dabei hatte sie sich erst Ende letzten Jahres zwei neue Kostüme angeschafft, ein dunkelgraues und ein schwarzes. Sie aß nun einmal gerne, warum sollte sie sich beherrschen? Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr Rufbereitschaft, vierundzwanzig Stunden am Tag stand sie für alle um sich herum zur Verfügung, nur das Essen, wenn auch meist nebenbei, gehörte ihr. Lautes Tschilpen drang von draußen herein, als verhöhnte sie jemand. Sie wandte sich um und spähte zum Fenster hinaus. Im Garten keckerte eine Elster, wetzte ihren Schnabel an den kahlen Ästen des Kirschbaums. Wo eine Elster ist, ist der Tod nicht weit, hieß es. Das passte zu einem Bestattungsunternehmen. Gloria hakte eine Scheibe auf und legte einen Keks aufs Fensterbrett. Aufgeschreckt flog der schwarz-weiße Vogel davon.
Es klopfte. Sie erhob sich, schnippte ein paar Krümel vom Kragen und ließ Olivia Loos herein. Ein Gespräch wie alle anderen; dass es für sie längst Routine war, durfte sie die Betroffene nicht merken lassen. Gloria heuchelte keine Anteilnahme, sie hatte die Verstorbenen zu Lebzeiten nicht gekannt, stattdessen bot sie eine Tasse Tee an und schenkte ein.
»Danke.« Olivia Loos setzte sich und sah sich um. »Ein Bestatterbüro
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