Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Loos trägt ein mehrlagiges Brautkleid, ihr Hochzeitskleid, was ein Foto im Treppenhaus der Familie Loos belegt.« Sie befühlte den Stoff. »Aus Seide, nehme ich an.«
»Satin«, korrigierte Susanne. »Satin und Organza mit eingestickten kleinen Blüten am Saum.«
»Das Brautkleid ist aus Satin und Organza«, wiederholte Carina. »Es hat einen Reißverschluss an der Seite, der nur halb geschlossen ist. Man sieht den Hosenbund der Jeans, die die Tote darunter trägt. Auf dem Rockteil klebt getrocknetes Blut, in Flecken und Spritzern. Auf dem Oberteil befindet sich ein handgroßer Blutfleck, und der Stoff weist auf Höhe der rechten Brust ein Schussloch mit Schmauchspuren und Pulveranhaftungen auf.«
»Corsage nennt man das, und sie ist mit Stäbchen verstärkt«, unterbrach Susanne erneut.
Carina drückte die Pausentaste. »Hast du mal bei Brautmoden gejobbt, oder was?«
Susanne errötete. »Ich habe vor Kurzem was Ähnliches anprobiert.« Sie verstummte und begann Olivia die Fingernägel zu schneiden, um mögliche Täteranhaftungen darunter zu sichern.
Sie würden auch Teppichflusen finden. Carina dachte an die Zeichen, die Olivia im Sterben in den Teppich geritzt hatte. Wie sollte sie das auf dem Diktiergerät festhalten, wo es doch keinen Beweis mehr gab?
Mithilfe von Nusser entkleidete Susanne die Tote Stück für Stück und achtete darauf, dass keine Stoffteile aneinanderrieben und eventuelle Täterspuren verwischt wurden. Wie auch bei Jakob legten Vincent und Verena alle Kleidungsstücke auf einer Plane aus und fotografierten sie noch einmal, bevor sie verpackt wurden. Das Brautkleid nahm Vincents größte Papiertüte in Beschlag.
Bevor sie sich der Schusswunde in der Brust zuwandten, untersuchten sie den Körper nach Einstichstellen von Injektionsnadeln. Da war nichts, außer ein paar Muttermalen; keine Narben, nur verblasste Schwangerschaftsstreifen auf Olivias Bauch. Carina beugte sich darüber, wollte die Haut genauer betrachten. In diesem Moment fiel das Licht aus. Sie standen im Finstern.
»Das habe ich hier noch nie erlebt.« Es klirrte. Nusser war gegen irgendetwas gestoßen. »Hat jemand eine Taschenlampe griffbereit, bevor ich noch mehr umreiße?« Ein Funkwecker im Regal blinkte orange und ließ Carina die Umrisse der anderen erahnen.
»Nur mein Handy, wenn das was nutzt?«, bot Buddeberg an.
»Ich versuche es so. Am besten, ihr bewegt euch nicht, keine wilden Knutschereien, ja? Es liegen schließlich überall Messer herum.« Nusser kicherte. »Anscheinend kann unsere Chefin jetzt schon nicht mehr den Strom bezahlen. Aber Hickl massiert Feininger vermutlich auch ohne Beleuchtung.« Er schlurfte hinaus.
»Was sollen diese Witze über meine Frau?« Die Stimme des Staatsanwalts.
Seine Frau? Carina stutzte. Buddeberg war mit Feininger verheiratet? Na, Nusser traute sich was. Der Ehemann ihrer Chefin war ihr bisher noch nicht begegnet. Was die Dunkelheit alles ans Licht bringt, dachte sie. Alle schwiegen quälend lange, bis endlich mit einem Piepsen einige Geräte wieder ansprangen und kurz darauf auch die Lampen.
»Sagen Sie, Frau Dr. Kyreleis, wer zum Teufel ist dieser Hickl?«, fragte Buddeberg, kaum dass es wieder hell geworden war.
11.
Salzig laut zischte es in ihren Ohren, dann wisperte und summte etwas. Der Zwiebelgeruch stieg ihr wieder in die Nase. Jemand hatte das Licht ausgeknipst, schnell wollte sie nach der Nachttischlampe tasten und sie anschalten. Doch sie schaffte es nur mit Mühe, den Arm auszustrecken. Vor Erschöpfung fielen ihr immer wieder die Augen zu.
Ein Knistern und Schmatzen lag in ihren Ohren, verschwand erst, als sie sich zwang wach zu bleiben und sich an die Helligkeit gewöhnte. Wo waren nur ihre Bilder hingekommen, die sonst jede Lücke zwischen den Möbeln ausfüllten?
»Warum malst du immer Muster, nie Leute oder Himmel oder Sonnen und Wiesen mit Häusern?«, hatte Sara sie einmal gefragt.
Aber das tat sie doch, ihre Freundin schaute nur nicht richtig hin. Es war alles darauf, nur eben so, dass man es auch zugleich hören und riechen konnte. Der Geschmack von Gelb, der Geruch von Blau, wie sich eine Wiese anhörte und die Luft zwischen den Gräsern aussah, dafür brauchte sie viel Farbe, Striche und Papier in mehreren Schichten übereinander. Vielleicht sollte sie eine Sinnesbrille erfinden, wie diese 3-D-Brillen im Kino, damit auch Sara und ihre Eltern in ihren Bildern mehr als nur Muster sehen konnten.
Wer hatte alle Zeichnungen abgenommen und die
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