Die Verstummten: Thriller (German Edition)
wirklich über die Schwelle der Kindergartentür geworfen. Und dann durften sie noch drei Wünsche in Ballons reinstecken. Hast du meine SMS gekriegt?«
»Tut mir echt leid, dass wir nicht dabei sein konnten, Papa und ich, wir mussten … «
»Ich meine«, unterbrach Wanda. »Weil ich dir geschrieben habe, was sich der Sandro wünscht. Sein Ballon landet doch irgendwo, und ich dachte, ich sag es euch direkt, damit du dich mit Papa und Mama absprechen kannst.«
Freitag
Sechs Stunden nach dem Ursprung
Eins konnten wir jedoch nicht ändern:
der Berg aus Bedeutung hatte angefangen,
wenig angenehm zu riechen.
Janne Teller
10.
Keine Leiche, keine Obduktion. Um Weihnachten und Neujahr war Selbstmord der häufigste Obduktionsbefund, in der wechselhaften Schwüle von Juli und August eroberte der Herzinfarkt die Rangliste der Todesarten, doch die wurden nur selten im Seziersaal des Instituts überprüft. Den Anzeigen in den Zeitungen nach zu urteilen, starb man und frau in der bayerischen Landeshauptstadt also nach wie vor, trotzdem staubten die Obduktionstische ein. Vielleicht machte auch das Verbrechen Urlaub, und die toten Münchner waren allesamt der Altersschwäche in ihren Betten erlegen. Jedenfalls musste es irgendeinen Grund geben, warum sie keine Aufträge zur Leichenöffnung erhielten. Bei der letzten Montagsbesprechung hatte ihnen Professor Feininger alles erklären wollen, es dann aber auf die nächste Sitzung verschoben. Carinas Kollegen verstiegen sich in absurde Theorien. Einige meinten, die Chefin würde mit ihrem Geliebten, dem zwanzig Jahre jüngeren Friedrich Hickl eine Physiotherapiepraxis in Finnland aufmachen und suche einen Nachfolger, andere behaupteten, das Institut müsse einer Schönheitsfarm weichen.
»Schönheit kann man nicht züchten«, widersprach Nusser. »Dabei kommen tote Gesichter heraus, und der Pfusch landet früher oder später auf unserem Tisch.«
Es roch nach Desinfizierschaum, als Carina mit Matte und den beiden von der Spurensicherung an diesem späten Freitagnachmittag im Institut für Rechtsmedizin eintraf. Der Präparator hatte bereits alles vorbereitet, die Stahltische poliert, zusammen mit Susanne Schmetterer das Ehepaar Loos geröntgt und hereingebracht. Es fehlte nur noch, dass er Girlanden aufgehängt und eine Torte gebacken hätte, so freute er sich, dass es endlich wieder losging. Bis auf die Staatsanwaltschaft, die Matte über die Rufbereitschaft verständigt hatte, waren sie komplett. Nach der drückenden Schwüle draußen wirkte die Kühle im Seziersaal belebend, alle atmeten auf. Carina bot ihrem Vater einen Stuhl an, er belastete schon viel zu lange seine schmerzende Hüfte. Aber er lehnte ab. Dann besprach sie mit Susanne die Röntgenergebnisse. In Jakobs Kopf und Körper befand sich kein weiteres Projektil. Auf Olivias Röntgenbild hingegen erkannte Carina ein Neun–Millimeter-Geschoss, das in einem von Olivias Brustwirbeln steckte und zu der Hülse passte, die unter dem Bett gelegen hatte. Weitere Patronenhülsen hatten Vincent und Verena nicht mehr im Haus gefunden, auch keine bei den zwei Einschüssen in der Kellerwand.
Sie würden mit Jakob Loos beginnen und danach seine Frau obduzieren. Als erste Obduzentin war Carina die Verantwortliche, sie würde diktieren, und ihre Kollegin, als Zweitobduzentin, schneiden. Also brauchte sie keine Schutzbrille über ihre Brille zu setzen, die Beule über dem Brillenbügel pochte ohnehin genug. Sie schlüpfte in ihr Grünzeug, wie sie ihre Kittelschichten nannte, zog die Plastikschürze und nur einen Handschuh über, und schaltete das Diktiergerät ein.
»Männlicher Leichnam, vierundvierzig Jahre, eins dreiundachtzig, sechsundachtzig Kilogramm schwer.« Carina las Gewicht und Größe von der Wandtafel ab, wo Susanne beides mit Kreide bereits notiert hatte, als sie mit Nusser die zwei Leichen auf der großen Körperwaage vor dem Seziersaal gewogen und gemessen hatte. »Der Tote trägt eine schwarze Anzughose mit Bügelfalten und zwei Taschen, die nur halb über die Unterhose heraufgezogen ist. Dazu ein weißes, falsch geknöpftes Hemd.« Carina schob die Brille nach oben, beugte sich vor und entdeckte einen losen Faden. »Der mittlere Knopf von fünfen fehlt.« Sie wandte sich an Vincent. »Habt ihr einen Knopf gefunden?«
»Noch nicht.« Er notierte sich etwas, und Verena, die ihre glänzend blauen Haare wieder unter der Kapuze eines neuen Schutzanzugs versteckte, fotografierte die Knopfleiste. Dafür, dass
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